Bettler! Werdet kreativ! Sichert euch soziale Anerkennung!

Verzagtheit. Melancholie. Überdruß. Sie kennen das auch? Wie schön. Was für ein Glück, solche Leser zu haben. Doch halt. Uns überfallen diese Gefühle beim Hören des Wortes Kreativität. Und Sie? Bitte? Sie finden Kreativität gut? Sie fragen, was wir denn gegen Kreativität hätten? Wie kann man so etwas fragen!

Kein Wort ist so auf den Hund gekommen wie das Wort Kreativität. Nichts anderes als ein Werbewort ist es, verhunzt, verhinzt und unseretwegen auch verblasen. „Kreativität“, das heißt blond sein, blöde grinsen, joggen und Joghurette naschen. Das heißt mit langweiligen Menschen erlebnisgastronomisch so tun, als ob man sich bei einem bestimmten Bier heftig amüsiert. Besonders schlimm wird es, wenn „Kreativität“ mit „Beruf“ sich paart. „Junge Menschen in Kreativberufen“, kann es uninteressantere Menschen geben? Nein, kreativ sein wollen heißt im besten Fall Langweiler, im schlimmsten Fall – Pardon! – Arschloch sein. So brummeln wir und freuen uns über unsere Entscheidung, den naturgemäß vollkommen unkreativen Beruf des Tageszeitungsredakteurs ergriffen zu haben.

Stopp! Wir sind ein wenig großspurig für diese kleine Glosse. Vor allem: So denken wir gar nicht mehr. So dachten wir nur bis gestern. Da gingen wir nämlich den Jungfernstieg entlang und sahen, wie ein Obdachloser vor einer älteren Dame einen Handstand vollführte. Und dazu hörten wir, wie der alsbald am Boden liegende Obdachlose (das mit dem Handstand hatte selbstverständlich nicht recht geklappt) in das vor Überraschung noch gar nicht empörte Gesicht der Dame würdevoll zur Erklärung sagte: „Jawoll, ich bin Bettler! Aber ich bin dabei doch kreativ!“

Das haben wir tatsächlich gesehen! (Ob der Mann allerdings diese oder andere Wörter sagte, möchten wir nicht beschwören, der Herr nuschelte etwas, egal.) Wichtig ist: Wenn sich Postbeamte mit kreativer Freizeitgestaltung oder firmenjahresabschlußberichtschreibende Werbetexterinnen mit der Selbstbezeichnung „Kreative“ Distinktionsgewinne erwirtschaften können, warum dann nicht auch Bettler mit kreativem Betteln? Also: Bettler! Voran! Werdet kreativ! Und sichert euch so euren Anteil an der sozialen Anerkennung – auch wenn es nur symbolisch ist, mehr kriegen der Postbeamte, die Werbetexterin auch nicht!

Ein Bettler im Handstand. Ein ungewöhnliches, ein kreatives Bild. In das wir sofort alle Kreativen der ganzen Welt hineindenken konnten. Hören wir jetzt das Wort Kreativität, bekommen wir wieder gute Laune. So hat der Bettler das Wort uns gerettet.

Geld gaben wir ihm übrigens keins dafür. Geld bekommt er ja schon von anderen Menschen. Wir aber gaben ihm für einen Augenblick unser Herz, und das geben wir nun wirklich nicht jedem. Morgen schreiben wir dann, bei welchem Wort uns Freude überfällt. Ach, morgen gibt es ja gar keine Zeitung. Schade. Wir waren in Fahrt. Dirk Knipphals