Strafverfolgung als taktisches Spiel

■ "Cowboy-Überfall" nennt Rußland den SFOR-Einsatz gegen Kriegsverbrecher in Bosnien. Wird künftig doch härter durchgegriffen? Aus Split Erich Rathfelder

Strafverfolgung als taktisches Spiel

Die Rauchwolken über der Aktion von Spezialtruppen der Nato vom Donnerstag gegen mutmaßliche Kriegsverbrecher in Bosnien-Herzegowina haben sich verzogen. Jetzt wird über die Frage spekuliert, wie es weitergehen wird. Bei der Aktion in der westbosnischen und von Serben kontrollierten Stadt Prijedor wurde ein mutmaßlicher Kriegsverbrecher getötet und ein weiterer verhaftet. Es handelt sich bei dem Toten um Zimo Drljaca, den ehemaligen Polizeichef der Stadt, der aufgrund des Drucks der internationalen Gemeinschaft in diesem Frühjahr von seinem Posten entlassen wurde. Drljaca hat 1992 mit dem Verhafteten, dem ehemaligen Vorsitzenden des Exekutivausschusses der Stadt, Milan Kovacević, die Vertreibung der mehrheitlich von Muslimen und Kroaten bewohnten 112.000 Einwohner zählenden Stadt organisiert. Beide waren beteiligt am Aufbau der Konzentrationslager in Omarska, Trnopolje und Keraterm. Ziel der serbischen Nationalisten war, die Region um Prijedor von Muslimen und Kroaten zu „säubern“, um einen „ethnisch reinen“ Korridor in die kroatische Krajina „zu schlagen“. Die Verbrechen in Westbosnien 1992 übertreffen nach Zahl der Toten und der Auswahl der Methoden noch jene in Srebrenica. Diese Verbrechen sind schon seit geraumer Zeit in Den Haag dokumentiert, gegen beide wurde schon lange ermittelt. Milan Kovacević stand auf der verdeckten Kriegsverbrecherliste in Den Haag.

Die britischen Spezialeinheiten sind also durchaus gegen die „richtigen“ Personen vorgegangen. Zudem wurden mit den beiden Mitgliedern der serbischen Nationalistenpartei SDS zwei Schlüsselfiguren im Machtkampf zwischen der Präsidentin Biljana Plavšić und ihrem Vorgänger, Radovan Karadžić, ausgeschaltet. Denn Prijedor gilt als Hochburg für Karadžić in Westbosnien. Damit schadet die Aktion Biljana Plavšić und ihrer Fraktion nicht. Daß Biljana Plavšić gegen die Aktion im nachhinein protestierte, bedeutet dabei nicht viel, sie war, nach Informationen aus Sarajevo, schon im voraus informiert.

Trotzdem bleiben einige Fragezeichen. Erstmals haben nämlich Nato-Truppen, die Teil der 30.000 Mann starken SFOR- Friedenstruppen sind, Jagd auf Kriegsverbrecher gemacht. Es handelt sich dabei vermutlich um jene Verstärkungen, die als Spezialtruppen in den letzten Wochen nach Bosnien gekommen sind. Eine solche Aktion war aber lange nicht vorstellbar, weil die internationalen Militärs in Sarajevo immer wieder behaupteten, die SFOR hätte kein Mandat, Kriegsverbrecher festzunehmen. Einwände gegen diese Argumentation und Verweise auf den Vertrag von Dayton wurden seit zwei Jahren von offizieller SFOR-Seite regelmäßig vom Tisch gewischt. Und jetzt behaupten die gleichen Leute, ihre Aktion sei durch das Mandat gedeckt! Die internationale Gemeinschaft hat also in der Frage der Kriegsverbrechen von Beginn des Krieges an keine prinzipielle, sondern lediglich eine taktische Position eingenommen. Oder anders ausgedrückt, der Vertragstext von Dayton wird je nach politischer Lage und Interesse unterschiedlich auslegt. Von dieser Kritik ist auch die russische Regierung nicht ausgenommen, die in der ostbosnischen Stadt Bijeljina selbst SFOR-Truppen stationiert hat. Ihr Protest gegen die „Cowboy-Aktion“ der Nato und damit der USA überdeckt die Tatsache, daß russische Militärs Karadžić und anderen Kriegsverbrechern in den letzten Monaten immer wieder Bijeljina als „sicheren Standort“ angeboten haben. „Die Russen ärgern sich, daß sie vorher nicht konsultiert wurden. Dann hätten wir aber den Zeitpunkt der Aktion und die Namen der zu Verhaftenden im voraus gleich an die Presse weitergeben können“, erklärte gestern ein Diplomat in Sarajevo.

Wie die Frage der Kriegsverbrecher behandelt wird, hängt also schon seit längerem von den politischen und militärischen Kräfteverhältnissen innerhalb der internationalen Gemeinschaft ab und nicht von der Pflicht der internationalen Institutionen, Verstöße gegen individuelles Recht und Völkerrecht zu ahnden. Daß die Menschenrechts- und Völkerrechtsargumente der Juristen in Den Haag in die US-amerikanische Position eingeflossen sind, daß die USA mit diesen Argumenten Druck auf andere beteiligte Staaten ausüben, entspricht auch ihrem temporären staatlichen Interesse. Sie wollen endlich eine Friedensregelung durchsetzen, die stabil ist und die es erlaubt, ihre eigenen Truppen aus Bosnien wieder zurückzuziehen. „Nur wenn das Abkommen von Dayton erfüllt wird, kann ein neuer Krieg in Bosnien-Herzegowina nach Abzug der SFOR-Truppen 1998 vermieden werden“, ist ein derzeitiger Standardsatz der US-Diplomaten.

Um dieses Ziel zu erreichen, werden alle möglichen Mittel angewandt. Dazu gehört auch, die Suche nach den Kriegsverbrechern möglichst effektiv zu gestalten. Daß Den Haag nun nicht veröffentlichte, also verdeckte Listen führt, ist vermutlich Teil dieser Strategie. Ob diese Maßnahme rechtlich einwandfrei ist, muß juristisch geklärt werden, politisch ist sie jedenfalls sehr effektiv: Erstens erleichtern die verdeckten Listen die Festnahme, zweitens verunsichern sie das Umfeld, und drittens tragen sie dazu bei, mögliche Anschläge auf Kriegsverbrecher zu verhindern. Denn weder der Führung in Belgrad noch der in Zagreb liegt daran, daß jene, die belastende Aussagen machen können, auch wirklich in Den Haag erscheinen. Das Leben von mutmaßlichen Kriegsverbrechern ist von dieser Seite her am meisten gefährdet.

Die balkanische Politik birgt jedoch viele Fallstricke. Und auch die Mitarbeiter der internationalen Institutionen vor Ort haben sich einige Tricks angeeignet. Eines der wichtigsten Gebote balkanischer Politiker ist, einem Plan nach außen zuzustimmen, um sofort dessen Durchführung zu behindern. Die ebenfalls am Donnerstag in der Nähe von Pale und Han Pijesak – dort befinden sich normalerweise die Kriegsverbrecher Karadžić und Mladić – durchgeführte Aktion der internationalen Spezialtruppen war ein Schlag ins Wasser. „Da wurde so dilettantisch vorgegangen“, heißt es aus diplomatischen Quellen, „daß es nur nach einer Warnung an die Adresse Karadžić' und Mladić' aussieht.“ Das von den Ex-Repräsentanten der internationalen Gemeinschaft, Carl Bildt und Michael Steiner, gewünschte „große Gewitter“ ist damit erst einmal aufgeschoben. Relativ kleine Fische sind im Netz, die großen schwimmen noch. Ratko Mladić soll gerade Urlaub an der montenegrinischen Küste machen.