Eine Million Raver können nicht irren

■ Can U Feel It? Um 14 Uhr dröhnt am Ernst-Reuter-Platz der initiale Baßschlag. Der Erfinder der Love Parade, Dr. Motte, fordert seine Jünger auf, den Tiergarten zu schonen: „Wer seinen Urin zurückhält, tanzt um so schneller“

Berlin, wie es tanzt und lacht: Nach Wochen des Ringens um Route, Randalefaktor und Politikfähigkeit der Love Parade ist die Hauptstadt im Jahre 9 nach der Erfindung des größten neuzeitlichen Musikumzugs auf dem Weg zu einem weiteren Höhepunkt in der friedlichen Nutzung der Rave-Energie. Der Konflikt zwischen ravender und ruhebedürftiger Society ist zugunsten ersterer entschieden, die brennende Urinfrage (wieviel Liter schluckt der Tiergarten?) mit 672 Toilettencontainern notdürftig geklärt. Selbst die Berliner Verkehrsbetriebe, das Jahr über als Bastion schnarrenden Preußentums gefürchtet, haben für den Festtag den S-Bahnhof Tiergarten in „Rave Garden“ umbenannt. Bitte recht freundlich!

Friede, Freude, viel guter Wille und gar keine Eierkuchen lagen denn auch in der Luft, als Dr. Motte symbolische 24 Stunden vor dem initialen Baßschlag (heute um 14 Uhr am Ernst-Reuter-Platz) zur letzten Pressekonferenz lud. Er, Motte, werde eigenhändig vorangehen, was den Schutz von Natur und Umwelt angeht, und seinen Müll in die dafür vorgesehenen Behältnisse entsorgen, sagte der Vater der Bewegung. Auch werde sein Urin in keinem Fall den Tiergarten nässen, denn „wer ihn zurückhält, tanzt um so schneller“. So, fügte Motte hinzu, hätte Wolfgang Neuss sich ausgedrückt – und schien er uns nicht zuzuzwinkern bei diesem Bonmot?

Der Berliner als solcher jedenfalls hat die Love Parade längst ins Repertoire klassischer Volksvergnügungen aufgenommen: Die Politiker, weil 1.000.000 Tänzer sich nicht irren können, der Passant, weil Dabeisein alles ist. Selbst die radikale Linke, die eine „Hate Parade“ angekündigt hat, gab sich kurz vor Schluß dialektisch. „Die Love Parade“, heißt es im Pamphlet eines „DJ Kalle“, „ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volkes. Man muß diese versteinerten Verhältnisse dadurch zum Tanzen zwingen, daß man ihnen ihre eigene Melodie vorspielt.“ Can U Feel It? Thomas Groß

siehe auch Seite 31