Die Rückkehr des märkischen Landadels

Der Marxsche „Adel der Menschheit“ und der Mannsche „Adel des Geistes“ ergänzen sich ganz traditionell  ■ Von Helmut Höge

Während die Geschichte der Privatisierung der DDR- Industrie vorwiegend grau erscheint, hat die der ostdeutschen Land- und Forstwirtschaft das Territorium bunt (im Sinne von heterotopisch) gemacht. Die von der BRD immer wieder und immer noch angestrebte Auflösung der LPGs durch Aufhebung der Zwangsverpachtung und Altschuldengesetze hatte bereits bei den umgewandelten Großagrarbetrieben zu einer Artenvielfalt geführt, die sich nun weiter diversifiziert.

Auf dem Land, wo alles vor sich hin zu dösen scheint und weitgehend Ruhe herrscht, wird hinter den Tüllgardinen hart gekämpft. Um jeden Quadratmeter. Wobei die Hauptkampflinien heute an den Bodenreformländereien entlang verlaufen. Die Treuhand-Boden-Verwaltungs- und -Verwertungs-Gesellschaft (BVVG) – unter dem Vorsitz des Grafen von Stauffenberg – hat den ostdeutschen Niederwald inzwischen schon so gut wie ganz an den westdeutschen Hochadel verscherbelt, aber um die Landwirtschaftsflächen geht der Streit noch bis hoch zu den ostdeutschen Landwirtschaftsministerien auf der einen Seite und zum Bonner Justizminister Schmidt-Jortzig sowie dem gerade ins Amt gewählten Nachfolger des Bauernverbandspräsidenten von Heeremann auf der anderen Seite. Gelegentlich schaltet sich dabei auch die eine oder andere russische Stelle noch ein. Oder Alteigentümer winken mit dubiosen Moskauer Dokumenten.

Die LPGs betreiben derweil neben den eher politisch-juristischen Versuchen, ihr gepachtetes Bodenreformland von der BVVG zu kaufen, „Pächterpflege“, denn noch der kleinste Landeinbringer kann jetzt damit drohen, seinen Acker an einen Westberliner Pferdebesitzer oder einen holländischen Neu-Jonkheer in der Nachbarschaft zu verpachten. Auch die letzte Fruchtfolge – Bau- beziehungsweise Golf-Erwartungsland – ist für ihn interessant.

Während arbeitslos gewordene Traktoristen nach Hessen „auswandern“, ziehen immer mehr Kulturschaffende – aus Berlin etwa – in leerstehende Bauernhäuser. Was ihnen früher die Uni- Buchläden waren, sind jetzt die Heimwerkermärkte. Auf deren Parkplätzen stellen „Indianistik“- Projekte aus und finden gar atamanische „Sonnenwendfeiern“ statt, auch Bauarbeiter werden dort vermittelt. Die B.Z. veröffentlichte neulich einen Plan mit sämtlichen märkischen Landbordellen. Und die taz die Adressen aller hanfanbauenden Betriebe.

Das Spektrum der „Land- Freaks“ reicht aber noch weiter: von reichen Tu-Gut-Ehepaaren, die hemmungslos ihre Konten für dörfliche Kulturprogramme plündern, über versprengte Öko- Agrar-Sektierer wie „Longo Mai“ bis hin zu antiimperialistischen Diplomlandwirten auf Kirchengütern und verbrecherischen Maklern, die im Osten als „Spezialisten für schwierige Grundstücksfragen“ durchgehen. Wenn man Existenz(be)gründer sucht, muß man aufs Land. Ganze Dörfer sind dort im authentischen Widerstand: das Künstlerdorf Vorwerk-Rosenthal gegen einen Porschevertreter aus Düsseldorf; die Mitarbeiter des Staatsguts Liebenberg gegen den Eigentümer Treuhand, die Gemeinde Horno gegen ihre umgefallene Landesregierung, mehrere Dörfer bei Wittstock gegen die Bundeswehr und ihr „Bombodrom“ usw. Mit ABM-Mitteln werden derweil – von Vorruheständlern – die Regionalforschung reorganisiert und herrenlose Gutshäuser – von ausgegründeten LPG-Gewerken – renoviert: zu Schulungszwecken!

Der kurioseste Fall eines neuen Schwungs durch alte Immobilität dürfte die Rückübertragung des Anwesens der von Bredows im havelländischen Lochow sein: ein Vorwerk des Schlosses von Görne, letzteres gehört heute einem Berliner Bar-Besitzer.

Nach der Flucht des alten Rittmeisters von Bredow war das Vorwerk teilweise in den Besitz seines ehemaligen ukrainischen Landarbeiters Nikolai Kolbatsch gelangt. Der mußte es später in die LPG einbringen, nach der Wende erhielt er das Land und die Gebäude, in denen er sich immer nur als „Verwalter“ gefühlt und seinen Kindern nie Baumaßnahmen erlaubt hatte, zurück. Er übertrug es sogleich – gegen den Willen der Treuhand – der Tochter des verstorbenen Grafen: Freifrau Josepha von Zedlitz. Diese hat inzwischen – mit einem Kredit – auch den Wald zurückbekommen und pendelt nun mit dem Pkw alle paar Wochen trotz ihrer fast achtzig Jahre zwischen einer bayerischen Pferdepension und dem alt-neuen märkischen Anwesen, in das ihre in Hamburg lebende Tochter einziehen will.

In Hamburg lebt auch noch ihre Schwester: Ilse Gräfin von Bredow. Sie veröffentlichte ein Buch über diese glückliche „Rückkehr in die märkische Heide“ unter dem Titel „Denn Engel wohnen nebenan“, womit ihr ukrainischer Landarbeiter und seine Familie gemeint sind. Er starb im übrigen kurz nach der Restitution 1993. Während Josepha von Zedlitz – „beherzt“, wie die Märkische Allgemeine schrieb – die Renovierung des Hofes in Angriff nahm, wobei ihr viele Alteingesessene im Dorf halfen, zu denen sie all die Jahrzehnte nie den Kontakt verlor, arbeitete ihre jüngere, fünfundsiebzigjährige, Schwester Ilse von Bredow an einem (literarischen) Denkmal für Nikolai Kolbatsch und seine Herrschaft. Das ist ihr auch gelungen. Sie kann im übrigen gar nicht anders als erfolgreich schreiben.

Nach der Flucht ihrer Familie in den Westen war die junge arbeitslose Gräfin zunächst kreuz und quer durch Deutschland getrampt, auch immer wieder nach Lochow. 1947 erkrankte sie an Tuberkulose und mußte lange Jahre in Kliniken verbringen. Bis heute ist sie auf ärztliche Betreuung angewiesen. In ihrer Not fing sie 1958 an, Kurzgeschichten für Tageszeitungen und „bunte Blätter“ zu schreiben. Ihr Durchbruch (bis zum Eintrag ins Guinnessbuch der Rekorde) kam 1979 mit dem märkischen Roman „Kartoffeln mit Stippe“. Auch ihr „Engel“-Buch ist ebenso wie das zweite („Deine Keile kriegste noch“) familienbiographisch – und wird wohl Lochow erneut berühmt machen.

Wie das Nachbardorf Kampehl, in dem der ehemalige Großbauer Emil Kort lebt. Er bekam nach der Wende ebenfalls seine Immobilien von der LPG zurück. Zusammen mit seinen Kindern gehören ihm außerdem inzwischen fast alle Gasthöfe im Ort. Emil Kort veröffentlichte 1991 seine Autobiographie unter dem Titel „Einfach losfahrn“. Sein Dorf wird inzwischen von derartig vielen Reisebussen angesteuert, daß sich auf dem Parkplatz im Zentrum bereits ein Gebührenautomat rechnet. Der siebzigjährige Emil Kort erfreut sich im Gegensatz zur Gräfin von Bredow einer robusten Gesundheit.

Während Emil Kort, der wie Nikolai Kolbatsch einige Zeit wegen „Sabotage“ im Rathenower Gefängnis einsaß, in seinem Buch zwischen Pathos und Trivialität schwankt und die „Schriftstellerei“ nurmehr als männliche Angeberei schätzt (immerhin gratulierten ihm neulich Manfred Stolpe und Stefan Heym zum Geburtstag), hält Ilse von Bredow einen quasi professionellen ironischen Ton durch, den man mit Günter Grass „Fonty light“ nennen könnte. Und dies sogar dort, wo es um ihre Krankheit geht, die sie streckenweise unterhalb des „Zauberbergs“ – in einer Davoser Klinik – auskurierte.

Hier erinnerte mich ihre Erzählung an den Briefroman der Gräfin von Reventlow, die seinerzeit jedoch nur aus Geldmangel kurte. Die Anarcho-Artistik der Reventlow kommt eher den Lebensvolten von Emil Kort nahe, der zum Beispiel, als man ihm den Führerschein entzog, einfach mit seinem Pferd durch die DDR zog: „Mir fällt immer was ein!“ Auch in seinem Dorf Kampehl steht, nebenbei bemerkt, eine interessante Privatisierung des Gutsschlosses an. Es war zuletzt ein Kinderheim, in dem Emil Kort als Heizer arbeitete: Während einer Lesungstournee durch Süddeutschland besuchte er gerade den möglichen Schloßerben von Blücher, um mit ihm ein gemeinsames Nutzungskonzept zu entwerfen, das bei der BVVG gegen das Kaufgebot einer Altvernativ-Ökogruppe aus Babe bestehen könnte. Noch ist hier nichts entschieden, ebenso wie im Falle des Staatsgutes Liebenberg, für das sich u.a. ein Westberliner Frauenhaus beworben hat.

Rund um das Anwesen in Lochow ist bereits so etwas Ähnliches entstanden: Neben Josepha von Zedlitz zog 1992 auch Luzie Mateke mit ihrem Mann aus Wolhynien von Westberlin nach Lochow zurück. Und zusammen mit ihrer Schwägerin Genia Mateke, ihrer Schwester Ilse Mateke und der Schwester von Josepha, Ilse von Bredow, bilden sie nun – „inzwischen alle Rentner“ – den letzten Rest der „Eingeborenen“ des Dorfes. Wir trinken zusammen Kaffee im Garten und „verklären die Erinnerungen“, wie Ilse von Bredow ihre Treffen beschreibt. Mit den alten Männern verhält es sich vielleicht so, wie es der russische Dichter Block schrieb: „Was den alten Frauen den Rücken gebeugt, hat sie längst zerbrochen.“ Bei der 1976 verwitweten von Zedlitz kommt nun noch das Landadelsphänomen hinzu, daß die „Heimkehr ungeahnte Lebenskraft weckt“, wie die Märkische Allgemeine meint.