Der Jubel kommt vom Band

Arbeit am Freizeitpark: Dem Wembleystadion wird der herbe Duft der Sechziger ausgetrieben, Chelsea steigt in den Pauschaltourismus ein  ■ Aus London Ronald Reng

Es wird gesagt, in Wembley sei Geschichte förmlich zu riechen. Doch im Bauch des berühmtesten Fußballstadions der Welt, in der „glücklichen Umkleidekabine“, hat sich der penetrante Geruch von Massageöl festgesetzt, das in unzähligen Halbzeitpausen auf Fußballerbeine geschmiert wurde. Wer sich in dem südlich vom Spielertunnel gelegenen Raum umzieht, so geht die Legende, kehrt 90 Minuten später in der Regel als Sieger zurück, so auch die deutsche Fußballnationalelf vor einem Jahr nach ihrem Sieg im Europameisterschafts-Halbfinale gegen England.

An einem gewöhnlichen Wochentag, wenn sich nur drei Gärtner auf dem für Fußballer heiligen Rasenplatz bewegen, erinnert die leere Umkleidekabine allerdings mehr an eine Bezirkssportanlage aus den sechziger Jahren als an die großen Momente der Sportgeschichte. Die rauhen Betonwände sind in dreckigem Weiß gestrichen, im Viereck stehen schlichte, mit blauem Kunstleder überzogene Bänke. Doch dieser Charme ist in Englands Freizeitgesellschaft nicht mehr zeitgemäß.

Am 1922 erbauten Stadion, „die Kirche des Fußballs, die Hauptstadt des Fußballs und das Herz des Fußballs“ (Pelé), stören heute der nackte Beton und der Mangel an Beinfreiheit auf der Tribüne. „Legenden leben für immer“, sagt Paul Sergant, Direktor der Wembley Stadium Limited, „75 Jahre alte Stadien nicht.“ Spätestens 1999 wird die historische Stätte, Schauplatz der Olympischen Spiele 1948 sowie der Fußball- Weltmeisterschaft 1966, Stück für Stück abgerissen.

Nach Möglichkeit bis zum Jahre 2001 soll an derselben Stelle im Londoner Nordwesten für circa 200 Millionen Pfund (550 Millionen Mark) ein neues Stadion entstehen. Außer dem Namen wird nicht viel vom alten Wembley übrigbleiben. 120 exklusive Logen, mit Küche, Bad und Blick über das Spielfeld, kündigt Sergant an, eine Laufbahn, die bei Fußballspielen unter Sitzplätzen verschwinden kann, und rund herum Bars, Restaurants, Kinos.

Wembley ist damit nicht Vorreiter, sondern eines der letzten Glieder in der Serie neuer englischer Stadionarchitektur. Nachdem 1989 im Hillsborough-Stadion zu Sheffield Menschen auf einer Stehtribüne zerquetscht wurden und 95 starben, wurden alle Profivereine verpflichtet, ihre Arenen in reine Sitzplatzgruben ohne Trennzäune zwischen Zuschauern und Spielfeld umzubauen. 13 Stadien wurden seit 1989 völlig neu gebaut. Fortan spielten die Briten ihren nicht immer ansehnlichen Fußball wenigstens in modernen Sportstätten.

Aus Fußballplätzen wurden Freizeitparks. Und mit ihren Stadien verwandeln sich die englischen Klubs – schneller als jede Konkurrenz in Europa – vom Sportverein zum Freizeitindustrie- Unternehmen.

Der Londoner Stadtteilklub FC Chelsea etwa vermeldete eine ungewöhnliche Verpflichtung. Für 6,5 Millionen Mark kaufte Chelsea Village (die Aktiengesellschaft, die den FC Chelsea besitzt) die Reisebürokette EDT auf. Im Dezember wird der Umbau des vereinseigenen Stadions inklusive Hotel fertig sein, dann besitzt der englische Pokalsieger alle notwendigen Subunternehmen für Fußballreisen.

1.200 Mark, so die Berechnungen des Klubs, würden auswärtige Chelsea-Fans im Schnitt für eine Wochenendreise nach London ausgeben. Bislang kassiert der FC Chelsey davon nur 60 Mark – für das Matchticket. Nun bietet der Premier-League-Klub über das eigene Reisebüro Pauschaltouren mit Eintrittskarte, Flug und Unterkunft im Stadionhotel an und will so an den großen Rest des Geldes.

Mit der Umgestaltung in Freizeitanbieter haben sich die englischen Fußballklubs eine neue, zahlungskräftige Klientel ins Haus geholt, die englische Mittel- und Oberschicht genauso wie japanische und skandinavische Touristen. Doch mehren sich die Klagen, dafür sei die außergewöhnliche Atmosphäre englischer Fußballstadien verschwunden, der Gesang, das Gebrüll, die großen Gefühle.

Das ist die bittere Ironie: Die neue Kundenschicht kommt, um diese Stimmung zu genießen – verdrängt aber gleichzeitig die Fans, die jene Gefühlswelt geschaffen haben. Die nämlich, die nicht jeden Samstag 60 Mark Eintritt oder 1.400 bis 2.400 Mark für ein Saisonabonnement zahlen können.

In Wembley haben sie Alternativen, falls mit dem historischen Stadion auch die legendäre Atmosphäre verlorengehen sollte. Hunderte von Touristen erfahren das tagtäglich, wenn sie auf einer 18 Mark teuren Besichtigungstour unter lautstarkem Jubel aus der „glücklichen Umkleidekabine“ heraus auf den heiligen Rasen laufen. Der Jubel kommt vom Tonband.