"Freidenkerei heißt Fragen stellen"

■ Im Juni wurde in Berlin eine freidenkerische Akademie gegründet. Gespräch mit dem geschäftsführenden Direktor Horst Groschopp über die Geschichte der Freidenkerei, das Ossi im Kulturkampf und seinen Nac

taz: Herr Groschoop, Sie sind vor kurzem zum geschäftsführenden Direktor der neu gegründeten Akademie des Humanistischen Verbandes in Berlin bestellt worden. Welche Ziele verfolgen Sie mit der Gründung einer konfessionsfreien Akademie?

Horst Groschopp: Die wichtigsten Motive entspringen aus den Bedürfnissen des Verbandes. Was sind die wissenschaftlichen Fragen, die Konfessionsfreie behandeln müssen? Wer sind überhaupt die Konfessionsfreien in unserer Gesellschaft? Welche von denen bekennen sich zu einem modernen, weltlichen Humanismus. Wie kann das Fach Lebenskunde weiter qualifiziert werden? Als humanistischer Verband haben wir eine ganze Reihe von praktischen Arbeitsfeldern, vom Kindergarten bis zu den Anonymen Alkoholikern.

Die konfessionellen Institutionen und Akademien leisten durchaus Arbeiten, die nicht unbedingt konfessionell zuzuordnen sind. Wodurch unterscheiden Sie sich von diesen?

In einem Punkt wollen wir uns von denen überhaupt nicht abgrenzen. Wir wollen eine Öffentlichkeit, in der man sich qualifiziert im geistigen Konkurrenzkampf über Werte in unserer Gesellschaft verständigt. Wir wollen also nicht nur mit Konfessionsfreien zusammenarbeiten, sondern mit den evangelischen und katholischen Akademien in einen Dialog eintreten.

Warum, glauben Sie, ist es wichtig, den Aspekt der Konfessionsfreiheit in besonderer Weise zu betonen? Man sollte doch meinen, daß wir in einer weitgehend säkularisierten Gesellschaft leben.

Zunächst einmal ist festzuhalten, daß die Säkularisierung, die wir erreicht haben, nicht zuletzt aufgrund des Wirkens von freireligiösen Gemeinden bis zu Freidenkern zustande gekommen ist. Unsere Gesellschaft ist ja nun einmal so organisiert, daß, wer seine Interessen nicht anmeldet, keine hat. So sind auch die Konfessionsfreien, die dem humanistischen und freidenkerischen Spektrum zuzuordnen sind, gezwungen, ihre Forderungen an den Staat und andere gesellschaftliche Organisationen zu stellen.

Ist es als Zufall anzusehen, daß die Akademiegründung ausgerechnet im Osten Deutschlands erfolgt ist?

Die Gründung ist nicht unbedingt ein ostdeutsches Bedürfnis gewesen. Es ist aber zu fragen, inwieweit der hohe Grad an Konfessionslosigkeit im Osten Deutschlands der Politik der DDR und der SED zuzuschreiben ist oder ob kulturhistorische Aspekte eine Rolle spielen. Der Osten ist nun einmal 1.000 Jahre später christianisiert worden. Wir wollen im übrigen keineswegs den Eindruck erwecken, als seien wir die erste Akademie im Spektrum der Freigeistigen und Konfessionslosen.

Wie kam es zur Gründung des Humanistischen Verbandes, und welche Position kommt einer solchen nichtkonfessionellen Institution heute zu?

Der Verband geht zurück auf den Verein der Freidenker für Feuerbestattung von 1905, einer sozialdemokratischen Organisation. Man kann ihn aber noch weiter zurückverfolgen bis zu den Deutschkatholiken und Lichtfreunden im Vormärz. Aus dieser Bewegung sind eine Reihe von entschiedenen Demokraten hervorgegangen. Im nächsten Jahr werden wir den 150. Jahrestag der Revolution von 1848 unter anderem mit einer Ausstellung im Prenzlauer-Berg-Museum begehen.

Während die Freidenkerei zunächst eine Angelegenheit von bürgerlichen Intellektuellen war, wurde sie nach der Jahrhundertwende proletarisiert und sozialdemokratisiert. Es gab dann große Massenorganisationen, die allesamt 1933 verboten wurden. Führende Funktionäre kamen ins KZ, einige wurden umgebracht. Nach dem Krieg kam es in Westdeutschland zu Neugründungen, so zum Beispiel den Freidenker-Verband, aus dem heraus sich dann 1993 der Humanistische Verband entwickelt hat, auch durch Zutritt einzelner Mitglieder aus dem Freidenker-Verband der DDR.

Sie haben sich auch wissenschaftlich mit der Freidenkerei beschäftigt und gerade ein voluminöses Buch mit dem Titel: „Dissidenten“ vorgelegt. Wenn ich Ihr Buch richtig gelesen habe, dann handelt die Geschichte der Freidenkerei von einer Geschichte der fortschreitenden Entkirchlichung, die oft erstaunlich schwärmerisch, manchmal gerade zu religiös verlaufen ist.

Es war für mich selbst beeindruckend, welches Spektrum von Freireligiösen bis hin zu Deutschgläubigen auf der Suche nach neuen Wertmaßstäben in der industriellen Gesellschaft entstanden ist. Ausgangspunkt all dieser Bestrebungen war die Frage, wie der Staat, der ja noch Landeskirchen hatte, eine stärkere Glaubens- und Konfessionsfreiheit gestatten mußte. Das ist die eine, äußere Seite. Auf der anderen entwickelte sich in den Kirchen selbst das Bestreben, sich zu entstaatlichen. Nach dem Bismarckschen Kulturkampf waren die Katholiken stärker auf sich verwiesen, weil sie auch organisatorisch gezwungen waren, innere Strukturen zu bilden.

Die Kirchenbücher wurden durch Standesämter abgelöst. Die Gesellschaft geriet pluralistischer, trotz aller Einschränkungen zur Kaiserzeit. Es entstand eine Konkurrenz religiöser und weltanschaulicher Einstellungen. Es gab sogar Strömungen, die sich zu einem deutschen Buddhismus bekannten. Daneben hatte besonders die Anthroposophie Konjunktur. Es gab zahlreiche Strömungen, die wir heute als New Age umschreiben würden. Selbst zu einer Organisation wie Scientology gibt es Vorformen im 19. Jahrhundert, zumindest was das Ideengebäude angeht.

Freidenkerei heißt also nicht selten zweierlei: sektenhafte Strukturen verbunden mit emanzipativen Elementen?

Sekte hat immer einen negativen Anstrich, weil es auch etwas definiert, was eindeutig keine Sekte ist. Der Weg durch die vielen Vereinskirchen ist dadurch in Gang gesetzt worden, weil es immer schwieriger wurde, die vielen Strömungen als Ersatzreligionen oder Sekten zu bezeichnen. Nur in einem Punkt waren ihre Interessen identisch: Es handelte sich um Dissidenten – nicht katholisch, nicht evangelisch und keiner jüdischen Gemeinde zugehörig.

Was heißt Freidenkerei heute?

Es heißt darüber nachzudenken, wie wir in der Trennung von Kirche und Staat weiterkommen. Wo sind Vorstellungen von einem Leben ohne Gott tatsächlich vorzufinden, wie wird in Wissenschaften darüber reflektiert? Ich kann mich durchaus mit Nietzsches Begriff von Freidenkerei identifizieren, der besagt, daß Freidenker die Andersdenkenden und Unbequemen sind. Die wichtigste Tradition der Freidenkerei ist es, unangenehme Fragen aufzugreifen.

Sie sind Mitorganisator des ostdeutschen Kulturtags, der in diesem Jahr den schönen Titel hatte: „Vom Nachteil kultureller Überlegenheit“. Gleichzeitig war im Zusammenhang mit dem Hungerstreik der Frankfurter Theaterleute Anfang Juni mehrfach die Rede vom Kulturkampf. In der Geschichte der Freidenkerei spielt der Kulturkampf eine zentrale Rolle. Gibt es da Zusammenhänge, oder wird der Begriff heute nur falsch verwandt?

Der Begriff Kulturkampf bezeichnet eine Etappe in der deutschen Geschichte, in der der preußische Staat, als evangelisch geleitete Einrichtung, säkularisierende Maßregelungen durchsetzt in einem massiven Kampf gegen die katholische Kirche nach der Reichseinigung. Da sind auch Bischöfe eingesperrt worden. Man spricht insofern heute noch von Kulturkampf, wenn es um die Weltlichkeit des Staates geht. Aus historischer Sicht ist es also nicht ganz richtig, aktuell von Kulturkampf zu reden. Postiv genommen könnte der Begriff aber implizieren, daß das Ossi und das Wessi mit unterschiedlicher Geschichte nun gezwungen sind zusammenzuleben. Wenn wir uns die Eigentumsverhältnisse anschauen, dann zeigt sich bei aller Differenziertheit, daß sich gewisse kulturelle Eigenheiten darstellen. Wie weit das geht, sei einmal dahingestellt. Jürgen Kuttner hat auf dem Kulturtag ja unmißverständlich gesagt, im Karton mit Egon Krenz und Vera Wollenberger komme er sich vor wie in einer Trachtengruppe. Mit denen habe er nicht viel gemeinsam. Aber sicher ist auch: Das Ossi verfügt über ein gemeinsames kulturelles Kapital. Nur durch ein bestimmtes Maß an Bildung, Anpassungsbereitschaft und Beharrungsvermögen hat es eine Chance auf individuelle Selbstbehauptung. Jedenfalls war das kein Vertriebenentreffen.

Das Ossi beschreiben Sie als ein zoologisches Neutrum. Verdient es Artenschutz?

Es gibt ja Vorschläge, das Ossi in die Gesellschaft für bedrohte Völker aufzunehmen. Es scheint sich etwas zu vollziehen, das nicht mit Schlagwörtern wie Borniertheit, Schranken, Mauern in den Köpfen usw. zu erklären ist. Es hat eine größere kulturelle Dimension. Die Literatur zum Thema ist ja inzwischen gewaltig angewachsen: über 1.000 Bücher zum Transformationsprozeß. Weil es sich um Menschen handelt, um Wünsche, Träume etc., ist die kulturelle Dimension so schwer zu erfassen. Das hat auch mit dem weitgehenden Untergang der ostdeutschen Kulturwissenschaft zutun.

Würden Sie der These des Berliner Schriftstellers und Essayisten Michael Rutschky zustimmen, der davon gesprochen hat, daß die DDR in mancher Hinsicht erst jetzt entsteht, und zwar als Erfahrungs- und Erzählgemeinschaft?

Wörtlich genommen ist das natürlich Quatsch. Gemeint ist aber wohl, daß Kultur davon lebt, daß Menschen gemeinsame Verhaltensweisen, Bilder und Symbole haben, die sich von anderen abgrenzen. Das ist nicht identisch mit politischen Abgrenzungen. Kulturell ist Frau Merkel in vielem nicht anders geprägt als jemand, der in der PDS ist.

Ob das eine Erzählgemeinschaft ist, weiß ich nicht. Dann müßte es sich dabei ja wie in der frühen Arbeiterbewegung um eine Kneipengesellschaft handeln. Wo erfahre ich denn was Ossimäßiges? Auf dem Kulturtag ist ja besprochen worden, daß es zu wenige Foren gibt, auf denen Ossis zu Wort kommen. Das ist ein Nachteil für alle, denn es vergrößert die Geheimnisse. Interview: Harry Nutt