Vom Überleben im Dreck

In der mongolischen Hauptstadt Ulan Bator leben rund 5.000 Straßenkinder. Sie schlagen sich durch: mit Betteln, Diebstahl und Prostitution  ■ Aus Ulan Bator Dondogyn Batjargal

„Mein Stiefvater hat immer getrunken und mich dann geschlagen“, erinnert sich Gabat. „Irgendwann hatte ich einen solchen Haß auf ihn, daß ich nur noch daran gedacht habe zurückzuschlagen.“ Doch der Stiefvater war stark und brutal. Der damals 14jährige Ganbat entschied sich für eine andere Alternative: die Flucht. Heute, zwei Jahre später, trägt er zerrissene Kleider und viel zu große, ausgelatschte Schuhe. Ganbat ist ein „Schmutzgesicht“ – so werden in der mongolischen Hauptstadt Ulan Bator die Straßenkinder genannt, die Passanten um ein paar Möngö zum Überleben bitten.

Ganbat war das einzige Kind in seiner Familie, das von einem anderen Vater stammte. Gegenüber seinen drei jüngeren Brüdern fühlte er sich stets benachteiligt. Sein Stiefvater habe ihm gesagt, er brauche nicht länger als vier Jahre zur Schule gehen. Danach solle er im Haushalt helfen. Aber Ganbat wollte weiter lernen – die Antwort darauf waren Schläge, jeden Tag.

Eines Tages traf Ganbat einen Altersgenossen, der ähnliche Probleme mit seiner Familie hatte. Gemeinsam beschlossen sie, nach Ulan Bator zu gehen. Per Autostopp fuhren sie zunächst in die Provinzhauptstadt Sainschand. Von dort ging es mit dem Zug in die Hauptstadt. Einen Fahrschein hatten beide nicht. „Wenn ein Kontrolleur kam, haben wir schnell den Waggon gewechselt“, erinnert sich Ganbat.

In der Hauptstadt, in der ein Drittel der gesamten Bevölkerung der Mongolei – rund 700.000 Menschen – lebt, sahen die beiden Jungs aus der Wüste erstmals in ihrem Leben gefüllte Schaufenster von Geschäften. Doch kaufen konnten sie sich nichts. Sie hatten kein Geld. Ganbat und sein Freund blieben am Bahnhof, einem klassischen Treffpunkt von Straßenkindern.

„Ich habe mir mein Geld mit Taschendiebstahl verdient“, erzählt Ganbat. Lebensmittel habe er sich in den umliegenden Geschäften zusammengeklaut. „Ich habe in Ulan Bator viel gelernt“, resümiert der Junge, „wie man ohne Wohnung überlebt, wie man von anderen Geld und Kleidung bekommt – und wie man zum Gangster wird.“

Doch eigentlich möchte Ganbat etwas anderes: „In Zukunft möchte ich Kraftfahrer werden.“ Der Grund: Sein leiblicher Vater verdiente sich so seinen Lebensunterhalt. Als Ganbat noch klein war, war er häufig mit seinem Vater auf Tour gegangen. Doch Aussichten auf eine solche Zukunft hat er praktisch nicht. Und so bleibt Ganbat nur der Bahnhof, von dem ihn die Polizei immer wieder verjagt.

Fast 5.000 Straßenkinder leben mittlerweile in den Häuseraufgängen, Bauruinen, der Kanalisation und in den Kellern von Ulan Bator. Ein Ort zum Überleben ist die Müllhalde des Hotels „Ulan Bator“. Hier sammeln die Kinder Abfälle, und gelegentlich bekommen sie sogar von Touristen etwas Geld geschenkt. Ganaa (16) erzählt, wie einträglich der Ort sei: „Einmal habe ich hier sogar einen 20-Dollar-Schein gefunden“, berichtet er. Die Note, die vermutlich ein achtloser Hotelgast verloren hatte, bedeutete für Ganaa kurzfristigen Reichtum: „Ich konnte mir endlich Bier und Zigaretten kaufen – und auch etwas zu essen.“

Und wo übernachten die „Müllkinder“? Ganaa erzählt, daß das im Sommer kein Problem sei. Gegenüber vom Hotel ist ein Park, und im Müll finden sich auch eine Menge wärmende Kisten und Kartons. Im Winter, der in der Mongolei mit bis zu minus 30 Grad sehr kalt ist, müssen sich auch die Müllkinder andere Quartiere in den umliegenden Hauseingängen und Kellern suchen.

Da die Müllkinder in der Nähe des Suche-Bator-Platzes leben, wo die Hotels und Theater sich konzentrieren, viele Touristen sind und auch der Hauptbezirk für die Prostitution ist, verdienen sich viele Müllkinder etwas Geld als Schlepper und Helfer der Zuhälter.

Altantuja (15) ist zusammen mit ihrem Bruder von zu Hause weggelaufen, als die Mutter vor drei Jahren wieder heiratete und von dem neuen Mann ein Kind bekam. Ihren Bruder hat sie mittlerweile verloren. Sie befreundete sich mit einem Mädchen von den Müllkindern, und beide schlugen sich zusammen durch. Eines Tages wurden sie im Park von einer älteren Frau angesprochen, die ihnen helfen wollte, zu Geld zu kommen. Sie zeigte ihnen ein Auto mit drei Männern, die ihnen das Geld, 5.000 Tugrik pro Stunde oder 12.000 für die ganze Nacht, geben würden. Sie fuhren mit den Männern mit, wurden vergewaltigt und sahen natürlich kein Geld. Das hatte die Frau längst abkassiert. Dieses Erlebnis war für Altantuja sehr einschneidend, doch nun weiß sie genau, wie man schnell zu Geld kommen kann. Sie braucht nun auch keine Vermittlerin mehr und bietet ihre Dienste im Park viel billiger an.

Doch in der Mongolei interessiert sich kaum jemand für die Müllkinder. Die Gesellschaft betrachte sie als „Strolche, die grundlos von zu Hause weggelaufen sind und deshalb kein anderes Schicksal verdient haben“, meint ein Mitarbeiter des mit EU-Hilfe finanzierten Straßenkinderprojekts Temuulel. Dabei sind es vor allem die Folgen der gesellschaftlichen Veränderungen nach dem Zusammenbruch des Ostblocks, die immer mehr Kinder auf die Straße treiben. „Früher haben die Mongolen ihren Kindern einen Klaps auf den Hintern gegeben, dadurch ist das Denken in den Kopf gerutscht“, erinnert sich ein älterer Mongole. Heute dagegen „wird auf ihre Köpfe eingehämmert, deshalb wird heute mehr mit dem Hintern gedacht.“