Lautstarke Welt unter der Zeitlupe

■ Robert Lepage zelebriert in seinem zweiten Kinofilm Der Polygraph eine Ästhetik der Widersprüche und Berührungen

Robert Lepage zweiter Kinofilm hat eigentlich nur ein Problem. Es heißt Alfred Hitchcock und hat mehr mit Lepages Erstlingswerk zu tun als mit Der Polygraph. Genau da liegt die Schwierigkeit. Denn nachdem der Kanadier Lepage im letzten Jahr großes Lob mit seiner Hitchcock-Reflexion Confessional ernten konnte, wird nun allenthalben auch sein zweiter Spielfilm als Thriller mit dem Namen der Hollywood-Größe in Verbindung gebracht.

Der Polygraph aber zeigt ganz andere Stärken, als die werbewirksame Verbindung von „Thriller“und „Hitchcock“üblicherweise erwarten läßt. Obwohl es um Mord geht und sich erst am Ende die Täterfrage klärt, interessiert sich Lepages Film vor allem für sogenannte Nebenstränge der Handlung, für Stimmungen und Innenwelten. Seine Spannung erwächst aus den Beziehungen zwischen Vergangenheit und Ist-Zustand und zwischen Innen und Außen.

Inhaltlich bringt der unaufgeklärte Mord an Marie-Claire alle Figuren des Films zusammen. Die Regisseurin Judith (Josée Deschênes) beschließt, einen Film zu drehen, der ihre Version des Todes ihrer Freundin auf die Leinwand bringt. Für die Hauptrolle engagiert sie die Schauspielerin Lucie (Marie Brassard), die ihrerseits entdeckt, daß auch ihr Nachbar in den Mord verwickelt ist: Francois (Patrick Goyette), der ehemalige Liebhaber Marie-Claires, ist noch immer einer der Hauptverdächtigen, der selbst jedoch am wenigsten über die Mordnacht zu wissen scheint.

Der Schock über den Tod seiner Geliebten und die brutalen Verhörmethoden der Polizei haben bei Francois zu einem Gedächtnisverlust geführt. Er selbst ist nicht sicher, ob er seinem eigenen Alibi vertrauen kann, das ihm seine Freundin Claude (Marie De Medeiros) geliefert hat. Ein zweiter Lügendetektortest soll die Auflösung bringen.

Lucies Unsicherheit liegt dagegen im Jetzt – und doch wieder nicht. Ihre neue Liebe, der Gerichtsmediziner Christof (Peter Stormare), scheint wie Francois von zurückliegenden Ereignissen bedroht, die offensichtlich mit dem aktuellen Fall der Berliner Mauer (Der Polygraph spielt im Kanada des Herbstes von 1989) zusammenhängen.

Phantastische Sprünge durch Zeiten und Räume, Verbindungen von hektischer Geschwindigkeit und lähmender Zeitlupe und die Verschmelzung von privatesten Erfahrungen mit lautstarkem Weltgeschehen – Robert Lepages Filmbilder und -töne erzeugen auf immer wieder überraschende Weise eine Ästhetik von Widersprüchen und Berührungen.

Und an diesem Punkt stimmt der Hitchcock-Vergleich dann doch wieder: Auch Lepage, seit Jahren ein Gott der internationalen Theater-Szene, versucht mit seiner Ästhetik, die Grenzen des Kinos zu erforschen.

Jan Distelmeyer

Alabama