Der Aspirant kommt über die Datenautobahn

■ Unter Osteuropas Reformstaaten gehört EU-Anwärter Estland zur Spitze

Mit der „singenden Revolution“ von 1988 kehrte Estland nicht nur „nach Europa“ zurück, vielmehr katapultierte es sich in das Zeitalter des Cyberspace. In Estland telefonieren so viele Menschen mit einem Handy, daß das Land inzwischen Rang fünf auf der Weltskala der Handybenutzer belegt. Ähnlich sieht es im Computerbereich aus. Gemessen an der Bevölkerungszahl von insgesamt 1,5 Millionen Menschen, steht Estland an der Spitze der Internetbenutzer.

Die Moderne hat insbesondere im Dienstleistungsbereich Einzug gehalten. Grundlage der überaus erfolgreichen Geld- und Finanzpolitik war die Einführung der Estnischen Krone als selbständige Währung im Juni 1992. Die Krone ist fest an die Deutsche Mark gekoppelt und durch Gold- und Devisenreserven gedeckt. Heute verfügt Estland über den stärksten Bankensektor im Baltikum. Das Wirtschaftswachstum legt Jahr für Jahr vier Prozent zu.

Die baldige Mitgliedschaft in der EU steht für die meisten Esten außer Frage. Auch der estnische Botschafter in Brüssel, Juri Luik, verbreitet schon seit Monaten nichts anderes: „Estland erfüllt alle ökonomischen Parameter, um schon mit der ersten Gruppe aufgenommen werden zu können.“

Auch häufige Regierungswechsel bremsten den radikalen Reformkurs nicht aus. Die Privatisierung der staatlichen Unternehmen nähert sich dem Ende, verhandelt wird derzeit noch über Energie und Eisenbahn, Telekommunikation, Post und den Hafen der Hauptstadt. In den letzten vier Jahren wurden 456 Unternehmen im Wert von über 3,1 Milliarden Mark privatisiert. Das Ausland ist mit rund 20 Prozent am Privatsektor beteiligt. Auf jeden Esten entfallen rund 700 Dollar Auslandsinvestitionen. Insgesamt erwirtschaftet der Privatsektor schon 70 Prozent des Bruttoinlandsproduktes. Nur die Inflation hat noch kein zufriedenstellendes Niveau erreicht. Im letzten Jahr fiel die Krone um insgesamt 20 Prozent.

Die Erfolgsstory der ehemals kleinsten Republik der früheren UdSSR hat aber auch ihre Schattenseiten. Insbesondere die Beziehungen zum ehemaligen „Okkupanten“, wie der Präsident Estlands, Lennart Meri, die Ex- UdSSR in einem aktuellen Interview mit dem polnischen Wochenmagazin Wprost nennt, verschlechterten sich zunächst dramatisch. Estland forderte von Rußland die Anererkennung der Grenzen von 1920, Moskau aber beharrte auf der Grenze von 1940, die es mit Nazideutschland im Hitler-Stalin- Pakt ausgehandelt hatte. Da der Westen immer deutlicher signalisierte, daß weder die Nato noch die Europäische Union an einem Mitglied interessiert sei, das mit seinen Nachbarn im Streit liege, gab Estland nach.

Im Februar 1997 verzichtete die estnische Regierung auf die Grenzkorrektur, doch nun wollte Rußland die Unterzeichnung des Grenzvertrages mit dem Status der russischen Minderheit in Estland verbinden. Auch dieses Problem ist bis heute nicht gelöst. Von den rund 495.000 Russen in Estland besitzen nur 125.000 die estnische Staatsbürgerschaft, weiteren 120.000 hat Rußland einen Paß ausgestellt. Die übrigen sind bis heute staatenlos.

Rußland wirft der estnischen Regierung vor, die russische Minderheit im Lande zu diskriminieren. Das konnten zwar eigens entsandte Delegationen der UNO und des Europarates nicht bestätigen. Tatsache bleibt jedoch, daß Estland ein äußerst restriktives Staatsbürgergesetz verabschiedet hat, das es vielen Russen nahezu unmöglich macht, die estnische Staatsbürgerschaft zu erlangen. Die Schwierigkeit besteht nicht in der geforderten Aufenthaltsdauer im Lande von fünf Jahren, sondern in einer Sprach- und Geschichtsprüfung, die jeder Antragsteller zu absolvieren hat. Die Anforderungen, so der Vorwurf, seien zu hoch und die Fragen zur Geschichte zu national.

Die weitere Entwicklung Estlands, dessen ist sich das Land bewußt, hängt weniger von den Beziehungen zu den skandinavischen oder baltischen Nachbarstaaten ab, sondern wieder einmal von Rußland. Doch Präsident Lennart Meri ist optimistisch: „Noch vor kurzem hatten wir tatsächlich viele Ängste, doch inzwischen eröffnen sich hervorragende Möglichkeiten. Rußland braucht Europa, und Europa braucht Rußland. Wir hoffen auf eine gute Zusammenarbeit mit Rußland, so wie mit Finnland.“

Und was die Minderheitenfrage angeht: „Wir assimilieren die Russen nicht mit Gewalt, es liegt uns daran, ihnen in unserem Lande größere Chancen als in Rußland zu bieten, so Präsident Meri. „Aber dafür erwarten wir von ihnen Loyalität unserem Staat gegenüber.“ Gabriele Lesser