Kellergeister und Henkell trocken

Hamburg unterirdisch, taz-Serie Teil 2: Wein und Schrecken im Rathauskeller  ■ Von Silke Mertins

Mit dem Schlüssel genestelt, zweimal herumgedreht, Klinke runter, schon ist sie auf, die Tür, hinter der die unterirdischen Schätze der Freien und Hansestadt Hamburg verborgen sind: der Weinkeller im Rathaus. Ein Blick auf die Etiketten geworfen, und der Schock fährt einem in die Glieder. „Henkell trocken“steht dort geschrieben. Wurde damit etwa der UN-Generalsekretär Butros Butros-Ghali bewirtet, als er im letzten Jahr zu Besuch war? Ist ein Imageschaden aus der Unterwelt von der Stadt überhaupt noch abzuwenden?

Senatssprecher und wandelndes Hamburg-Lexikon Hinnerk Fock streicht sachlich über die Flasche. „Nein, nein“, weiß er zu beruhigen, „der wird nur bei Empfängen gereicht.“Die Flaschen bekommt bei solchen Anlässen kein Mensch zu sehen, sondern nur Prickelndes in Sektgläsern. Für das Einschenken vor aller Augen gibt's doch Brut de Listel. Fock arbeitet sich durch die Regale, zeigt auf diesen oder jenen guten Tropfen. „Alle sehr günstig“, freut er sich. Denn der Senat kauft von den Händlern kistenweise Restbestände auf. Die meisten kosten zwischen fünf und 25 Mark.

„Früher waren die Weine eine Vermögensreserve für den Rat“, wird der Senatssprecher historisch und lehnt sich an „das Archiv“des Weinkellers; tönerne Schächte, die je eine Flasche des bereits getrunkenen Weins beherbergen. Denn früher hatte der Rat – Vorgänger des Senats – keinen eigenen Haushalt. Aber ein Monopol auf den Verkauf von Weißwein im Ratsweinkeller. Richtige Kostbarkeiten, die man bei Bedarf plündern konnte, lagerten dort und veranlaßten später Napoleon zum ungehemmten Zugriff zwecks Finanzierung seines Rußland-Feldzuges.

Doch all das war nicht wirklich im Keller dieses Rathauses, das erst 100 Jahre alt ist und zu seiner Erbauungszeit „eines der modernsten Gebäude auf dem europäischen Kontinent war“. Die Geheimnisse der Fortschrittlichkeit lagen im Keller, genauer gesagt, im Belüftungs- und Heizsystem. Hinnerk Fock gerät zwischen Rohren, Schächten und verwinkelten Gängen richtig in Fahrt.

„Hier“, erklärt er stolz, „waren riesige Schaufelräder aus England“, die vom Brunnen hinter dem Rathaus gekühlte Luft ansaugten und in die Räume der Entscheidungsträger pumpten. Umgekehrt funktionierte es ebenso. Kuschelig warm wurde den Ratsherren mittels einer Dampfanlage, die von der Stadtwassermühle angetrieben wurde. „Die erste Kraft-Wärme-Kopplung“, sagt Fock.

Eine lange Reihe von Rohren und Regulierungshähnen ist zu sehen, die mit Keramikschildern „Kaisersaal“, „Phönixsaal“oder „Amtszimmer“versehen sind. Denn „jeder Raum konnte einzeln beheizt oder belüftet werden“. Schächte führen von diesem Keller in fast alle Teile des Rathauses. Der Einstieg ins Bürgermeisterzimmer und Zugang zu seinen geheimsten Unterlagen über die alten Luftschächte? Ob das geht, will Fock nicht wissen. Jedenfalls „hier über uns liegt sein Büro“. Inzwischen ist es nur noch die profane Warmwasserheizung, die die PolitikerInnen im Rathaus erhitzt. Für die alte Dampfanlage gingen die Ersatzteile und sachkundigen Techniker aus.

Fock verschwindet in einer Ecke und gebietet mit einer Handbewegung, man möge ihm folgen. „Das ist der Wasserstandsanzeiger.“Er zeigt an, ob die 4.000 preußischen Kiefernpfähle, auf denen das Rathaus wegen des morastigen Bodens errichtet ist, auch ordentlich unter Wasser stehen. „Sonst verfaulen die.“Kiefern, kein Hartholz, zum Beispiel Eiche? „Kiefern sind besonders lang und gerade“, weiß Fock. Doch, doch, auf Holz sei Verlaß. Venedig stände teilweise auf Pfählen aus dem Mittelalter.

Der Weg zur „Schreckenskammer“ist gar nicht leicht zu finden. Fock muß mehrmals die im Keller residierenden Handwerker fragen, wo denn der neue Zugang ist. Dann stehen sie vor uns: Kaiser, Bischöfe, römische Figuren, Lotsen, Wasserträger, Fischer, ehemalige Bürgermeister – in Büste oder als Ganzkörper und fast alle aus Gips. Nach diesen Vorlagen fertigten die Künstler die Steinskulpturen, die das Rathaus schmücken. Vorsichtig ist man mit ihnen nicht umgegangen. Hier fehlt eine Nase, dort ein halber Rumpf, und mancher steht nur noch auf einem Bein. „Es wird wenig weggeworfen“, sagt Fock. Nur die Büste von Adolf Hitler, die hier lange in einer Ecke gestanden haben soll, ist nicht mehr aufzufinden. Wo die ist, „weiß ich nicht“.

Die einzige Schreckenskammer ist diese hier ohnehin nicht. Ganz oben gibt es eine weitere, in der ungeliebte Gastgeschenke aus aller Welt abgelegt werden. Dort türmen sich röhrende Hirsche, Mobiles, Wappenlöffel und neonfarbene Blümchenvasen. Im Vergleich, sagt Fock, „kann man streiten, wo der größere Schrecken liegt“.

Hamburg unterirdisch, Teil 3: 3000 Meter tief auf der bohrenden Suche nach Wärme, Freitag, 25. Juli