Russisches Roulette im Drogenzirkus

■ Teufel, Tod und Torf: Das Musical „The Black Rider“feierte Premiere im Alten Postamt 5 am Bahnhof

Wenn Regiefürst Robert Wilson mit dem Musiker Tom Waits und dem Poeten William S. Burroughs ein Musical ersinnt, muß man damit rechnen, auch Leute ins Theater zu locken, die sich dort gewohnheitsmäßig nicht blicken lassen. Leute, die Platten von Waits oder Bücher von Burroughs im Regal haben. Da war es weise vom Jungen Theater, für die Bremer Inszenierung des Erfolgstückes „The Black Rider“die eigenen beengten Räumlichkeiten in der Friesenstraße zu verlassen, um ins Alte Postamt 5 am Hauptbahnhof umzuziehen.

Die Rechnung scheint aufzugehen: Generalprobe und Premiere wollten mehr Menschen erleben als Sitzplätze vorgesehen waren.

Trotz Modernisierung folgt die Handlung des Stückes recht treu der zugrundeliegenden Volkssage „Der Freischütz“. Der tapsige Buchhalter Wilhelm (Michael Henn) liebt die holde Försterstochter Käthchen (Liz Hencke), was diese aufs heftigste erwidert. Doch ihr Vater, der Erbförster Bertram (Regisseur Ralf Knapp), will die Hand seines Mädchens nur einem ganzen Kerl geben, der ordentlich mit der Flinte umgehen kann. Da scheint der arme Wilhelm hoffnungslos verloren: Er trifft aber auch gar nichts. Bis er Stelzfuß (Nomena Struß) trifft. Der weibliche Teufel gebiert sechzig Zauberkugeln aus seinem Schoß, mit denen Wilhelm, ohne hinzugucken, ins Schwarze zielt. Bertram erfreuts: „Wer so gut mit der Flinte kann, trifft auch ins Ziel als Ehemann!“

Aber die Kugeln sind bald aufgebraucht, und der Buchhalter wird ausgerechnet vor dem finalen Probeschuß wieder zum Stümper: „Kein Tier im Revier – ich geh zurück zum Papier!“Stelzfuß schenkt ihm sieben weitere Kugeln, aber es gibt einen Haken: „Six are yours and hit the mark, one is mine and hits the dark!“Schön übersetzt: „Deine treffen, meine äffen!“Natürlich erwischt Wilhelm die eine faule Kugel, und es kommt zur Katastrophe. Die Braut ist tot, der Bräutigam singt fortan im Irrenhaus.

Anfangs fehlt der Inszenierung Schwung. Die Darsteller wälzen sich im Torf, der neben einer Fensterwand und zwei Seilen das gesamte Bühnenbild darstellt, wonach sie aufstehen und wie unter Hypnose sprechsingend kommende Attraktionen ankündigen: „Sehen Sie das dreiköpfige Baby! Hitlers Gehirn! Die gemütlichste Frau der Welt!“Es ist eines der wenigen Musikstücke, in denen die Arrangements des musikalischen Leiters Mark Scheibe entscheidend von Tom Waits' Komposition abweichen. Bei Waits ist diese „Lucky Day Overture“zackig und marktschreierisch, bei Scheibe soll sie wohl bedrohlich wirken, wirkt aber leider tranig. In anderen Schlüsselsongs wie „Just the Right Bullets“bewegt die Band sich eng an den Originalen und tut gut daran.

Sobald Stelzfuß die Bühne betritt, sind die anfänglichen Bedenken im Nu verflogen. Nomena Struß ist mit Pferdefuß, Krücke, rotem Korsett und vampigem Make-up ein sehr guter Teufel, trefflich angesiedelt zwischen Ekel und Sexappeal. Die wahre Wucht aber ist Liz Hencke als Käthchen. Ob sie dichtend im Torf mullt, singend in den Seilen hängt oder um und über die Bühne rast – alles tut sie mit einer Präsenz, die schon allein den Theaterbesuch wert ist.

Ralf Knapps Inszenierung nutzt die Größe der Location hervorragend. Selten agieren nur ein oder zwei Charaktere, meistens gibt es auch am Rand oder im Hintergrund etwas zu sehen. Das anfänglich suggerierte Zirkusthema wird somit gut umgesetzt. Oft weiß man nicht, wo sich der Sprechende oder die Singende überhaupt befindet, da passiert schon etwas anderes, was ohnehin viel interessanter ist.

Nicht lange suchen hingegen muß man nach der Moral. Daß die Zauberkugeln Drogen sind und der Teufel ein Dealer ist, ist von Anfang an Tatsache und keine Frage der Interpretation. Trotzdem ist all dies so originell verpackt, furios gespielt, ironisch geschrieben und köstlich übersetzt, daß „The Black Rider“trotz überdimensionalem Zeigefinger eine fast ungetrübte Freude ist.

Andreas Neuenkirchen

Postamt 5., 16., 17., 23.- 27., 30., 31. Juli, 20.30 Uhr