Die Gerechtigkeit des Narziß

Rauh und zupackend: Das Londoner ThéÛtre de Complicité spielt Brechts sentenzenreichen, deutschstundenknarrenden „Kaukasischen Kreidekreis“ als pralles Volkstheater  ■ Von Michael Mans

Um ein Kind geht es, unter anderem, in Bertolt Brechts Stück „Der Kaukasische Kreidekreis“ (außerdem um Mut, um Gerechtigkeit und um den richtigen Umgang mit dem Anvertrauten). Ein Kind auf der Bühne ist keine leichte Aufgabe, vor allem wenn es im Verlauf des Abends um einige Jahre altern soll.

Das „ThéÛtre de Complicité“ benutzt eine weißgesichtige Säuglingspuppe, die später ersetzt wird durch die identische Puppe eines etwa Dreijährigen und wieder etwas später durch eine noch erheblich größere. Die aber erwacht plötzlich zum Leben, zieht sich die weiße Maske vom Kopf und steht als wirklicher, etwa achtjähriger Junge da. So einfach ist das.

Nicht nur wie man eine Puppe, sondern auch wie man ein Theaterstück zum Leben erweckt, führen die Briten bei ihrem Gastspiel in der Treptower Arena vor, das auf Einladung des Berliner Ensembles im Rahmen des diesjährigen Brecht-Sommers stattfindet. Und auch das scheint ganz einfach zu sein. Fünfzehn Darsteller, phantastisch folkloristisch kostümiert, im von dekorativ zerrissenen Stoffbahnen überspannten Zirkusrund, dazu drei Musiker und einige lange Holzstangen, die mal als Waffen dienen, mal als Brücke, mal eine Tür darstellen oder einen Fluß – sie genügen, um aus dem deutschstundenknarrenden, sentenzenreichen „Kaukasischen Kreidekreis“ im Handumdrehen das lebenspralle Volkstheaterstück „The Caucasian Chalk Circle“ werden zu lassen.

Die Übersetzung in ein rauhes, zupackendes und dabei doch poetisches Englisch, die Frank McGuinness für diese Produktion besorgte, tut einiges dazu und läßt den deutschen Zuhörer die gekünstelte und holzschnitthafte Kleine-Leute- Sprache Brechts schnell vergessen. So können die „Complicités“ deklamieren, chargieren und barmen, daß es eine wahre Freude ist.

Die scheinbare Naivität aber, mit der das „ThéÛtre de Complicité“ dem Stück begegnet, ist ausgefuchst und hart erarbeitet. Das betrifft nicht nur die genaue und präzise Choreographie mit ihren (manchmal etwas geschmäcklerischen) Freeze- und Slow-motion- Effekten, die aufwendige Lichtregie und den für ein Schauspielerensemble geradezu unheimlich perfekten Chorgesang nachgestalteter georgischer Folklore. Die Briten wissen auch ganz genau, was sie tun, wenn sie in den Klassentypisierungen Brechts die Chargen des Bauerntheaters entdecken, im Deklamatorischen des Lehrstücks das Pathos der Shakespeare-Tradition und in der Erzählerfigur des epischen Theaters den schamanischen Sagenbeschwörer.

Sie nehmen den Text ernst – als Theatertext, der, fern aller Brecht- Tradition, pathetisch sein darf, emotional und sogar kitschig. Den einfachen Leuten Brechts aber, der zugleich schlau-lebenstüchtigen und zärtlich liebenden Grusche, oder dem versoffenen Richter Azdak, der nichts als reden kann, der sich um Kopf und Kragen redet und durchs Reden doch immer wieder Kopf und Kragen rettet. Der eigentlich stets nur seine Haut retten will und doch immer wieder überwältigt wird von seiner Lust am Disput und am Widerspruch, ein Gerechter aus lauter Narzißmus und selbstverliebter Listigkeit – denen geschieht in dieser Inszenierung alles Recht der großen Schauspielkunst.

Die Grusche spielt Juliet Stevenson, die „Lucie Chabrol“ in der Vorjahresproduktion des „Complicité“, voll heiserer Rauheit, ordinär und zart zugleich. Den Azdak gibt der Regisseur Simon McBurney selbst als heruntergekommenen Intellektuellen mit dem schwarzen Brillengestell der Heiner-Müller-Epigonen, das unverwüstliche Stehaufmännchen als furioser Stand-up-Comedian. Nur den Simon (Robert Patterson), den Liebsten der Grusche, der aus dem Krieg zurückkehrt und die Welt nicht mehr versteht und schließlich doch zu seiner, inzwischen aus Not verheirateten Exverlobten hält, den hätte man sich etwas weniger einfältig-dimensional gewünscht – obgleich nur eine Nebenrolle, hat die Figur doch einiges mehr zu bieten als tumbe Tölpelhaftigkeit.

Ansonsten aber: eine schnelle, spritzige und unterhaltsame Vorstellung, die bei den 650 Zuschauern in der ausverkauften Arena auf ungeteilte Begeisterung stieß.

ThéÛtre de Complicité: „The Caucasian Chalk Circle“; Regie: Simon McBurney. Weitere Vorstellungen: bis 20. Juli, täglich um 19.30 Uhr in der Arena, Eichenstraße 4, Treptow