Vom Lug und Trug der Medizin

120 Teilnehmerinnen diskutierten auf einer Tutzinger Tagung darüber, was Frauen über medizinische Risiken wissen sollten. Ein Bericht  ■ von Doris Heselberger

„Es war die richtige Entscheidung“, findet Uta Scholl*. Selbstbewußt erzählt sie von ihrer Krankheitsgeschichte. Vor fast zwei Jahren erfuhr sie, daß sie Gebärmutterhalskrebs hat. In den Schock mischte sich überraschenderweise auch Erleichterung. „Endlich muß ich nicht an meinen stressigen Arbeitsplatz zurück“, dachte sie, aber im nächsten Moment: „So weit mußte es also kommen, daß ich endlich mein Leben ändere.“ Als die Klinikärzte ihr empfahlen, sich Lymphknoten und Gebärmutter entfernen zu lassen, wurde aus dem 1,1 Zentimeter großen Tumor eine ungeheure Bedrohung. Panik brach in ihr aus. Die 34jährige Frau erbat sich Bedenkzeit.

Das Risiko, daß der Krebs Metastasen bilden könnte, betrage fünf bis zehn Prozent, erfuhr sie. „Aber dann hab' ich doch 90 Prozent Chancen“, fragte sie die Ärzte hoffnungsvoll. Einer schüttelte den Kopf und antwortete ehrlich: „Das kann ihnen niemand beantworten.“ Uta Scholl reagierte kämpferisch. Sie holte unterschiedliche Meinungen ein, telefonierte auch mit Frauenärztinnen an großen Kliniken. Alle sagten ihr dasselbe: „Lassen Sie sich operieren. Dadurch erhöhen Sie Ihre Überlebenschancen.“ Uta konnte es nicht fassen, denn sie hatte schreckliche Angst vor Operationen. Und außerdem war da noch dieser Kinderwunsch, wenn auch etwas unentschlossen spürbar, so doch immerhin vorhanden und das Risiko vielleicht wert. Sie kaufte zahlreiche Bücher und schöpfte bei all den Sätzen Hoffnung, die aus dem Krebs kein „Ungeheuer“ machten, sondern die Folge eines geschwächten Immunsystems. Also machte sie sich an die Stärkung ihrer „Selbstheilungskraft“, an die sie fest glaubte. Bei Klinikärzten rief sie damit verständnislose Blicke hervor. Sie suchte sich andere, die sie in ihrem Glauben unterstützten. Ärzte, die „über den Tellerrand schauen“ und chinesische Medizin oder klassische Homöopathie beherrschen. Therapeutinnen, die ihr halfen, über den Tod ihres Vaters endlich zu trauern.

Als aus den Wochen Monate wurden und die Selbstzweifel und die „schreckliche Krebsangst“ nachließen, wurde ihr Weg immer deutlicher. Aus ihrer Entscheidung, einer gängigen medizinischen Auffassung nicht zu folgen, formte sich eine Lebenshaltung aus Selbstverantwortung, Hoffnung und Demut. Demut vor dem Leben und seinem möglichen Ende. „Trotzig und ein wenig fatalistisch bin ich schon“, gibt sie zu. Weil drei Monate nach der Diagnose ihr Unterleib schmerzte, habe sie voller Verzweiflung zu Gott gebetet. „Wenn du mich sterben lassen möchtest, dann soll es so sein“, willigte sie ein und verkündete gleichzeitig, daß sie sich auf gar keinen Fall operieren lassen würde. „In jener Nacht durchlebte ich eine Katharsis, in der ich Hoffnung schöpfte und begriff, daß ich traumatische Lebensereignisse bearbeiten mußte.“ Kurz darauf entdeckte Utas Frauenärztin den Grund ihrer Schmerzen: eine große Zyste am rechten Eierstock. „Als Folge der Angst, aus homöopathischer Sicht“, meint Uta. Die Zyste verschwand und kehrte nicht wieder. Und die Angst? „Davon ist immer ein wenig spürbar, aber sie hat mich nicht mehr in der Hand.“

Ihrer Frauenärztin ist Uta bei der Tagung wieder begegnet. Mit deren Motto „Umgang mit dem Risiko“ hat sie ausreichend Erfahrung gesammelt. Der Lug und Trug moderner Medizin, das Vorgaukeln vermeintlicher Sicherheit, das war am vergangenen Wochenende in der Evangelischen Akademie in Tutzing das Thema von etwa 120 Frauen aus Medizin, Wissenschaft, Gesundheitsversorgung, Politik und Selbsthilfebewegung.

Darunter auch Prof. Dr. Barbara Duden, Historikerin am Lehrstuhl für Soziologie in Hannover. Leidenschaftlich mahnt sie während den manchmal theoretischen Diskussionen zum genauen „Hinschauen“. Eine ihrer Studentinnen erstellt derzeit eine Studie über humangenetische Beratungsgespräche für werdende Eltern, die bisher nur eines verdeutlichen: „Die Genetiker können nichts über die Zukunft sagen, denn Statistiken sagen nichts über Personen aus. Wohl aber verunsichern und verwirren sie die beratenen Frauen und Paare, denen niemand beantworten kann, ob sie zu den drei Prozent Risikopersonen gehören.“ Bei der Cystischen Fibrose, einer schweren Stoffwechselerkrankung, gibt es 600 verschiedene Genveränderungen, die niemals alle getestet werden können. „Es besteht eine sehr beunruhigende Diskrepanz zwischen Sein und Schein“, faßt Barbara Duden die „unsinnigen“ Genuntersuchungen zusammen.

Ein weiteres Beispiel, was ein Risiko in Wirklichkeit bedeuten kann, beschreibt die Hebamme Stephanie Struthmann: Ein Zwilling ohne Herz war im Ultraschall als winzig im Vergleich zu seinem Geschwisterchen zu erkennen. Die Schwangerschaft wurde als riskant eingestuft. Die Mutter entschied sich trotzdem für eine Hausgeburt. Das war auf ihr Vertrauensverhältnis zur Hebamme zurückzuführen, die die Geburt begleitet hat. Unbeeinflußt von medizinischer Kontrolle verlief sie dann so, wie die Natur es vorsah. Zuerst wurde das kleine Kind tot geboren, und kurz darauf schlüpfte der gesunde Zwilling nach, der noch vor Wochen den anderen Embryo schützend umarmt gehalten hatte. Auch das war im Ultraschall zu sehen gewesen. Ihn hält Stephanie Struthmann für ineffizient, weil „70 Prozent der Fehlbildungen nicht entdeckt werden und 30 Prozent der Diagnosen nicht stimmen“.

Was bedeutet es für Frauen über 35, entscheiden zu müssen, ob sie eine Fruchtwasseruntersuchung vornehmen lassen, weil eine größere statistische Wahrscheinlichkeit besteht, daß sie ein mongoloides Kind zur Welt bringen? Die Frauenärztin Dr. Almut Paluka, die die Tagung initiiert und organisiert hat, findet es „unzumutbar, daß Frauen in der Schwangerschaft vor diese Entscheidung gestellt werden“.

„Es läßt sich auch nicht sagen, wie ein behindertes Kind später sein wird.“ Barbara Duden erzählt zärtlich von ihrer „etwas behinderten“ Zwillingsschwester und erinnert sich: „Es war nicht leicht, aber wir sind damit zurechtgekommen.“

Von einer „seelenlosen“ Medizin ist die Rede, die behinderte Menschen vermeiden möchte und unnötig Geld verschlingt für zweifelhafte Aussagen. „Statistiken werden häufig von der Pharmaindustrie in Auftrag gegeben“, weiß die Frauenbeauftragte in Bremen, Ulrike Hauffe, und daß die wirtschaftlichen Interessen verfolgt, ist kein Geheimnis. Die Ärztin und Professorin für Gesundheitswissenschaften in Osnabrück, Beate Schücking, geht sogar noch weiter: „Es gibt grobe medizinische Schnitzer, die kaum als solche erkannt werden.“ Über den Sinn und Nutzen von Knochendichtemessungen und Hormontherapien in den Wechseljahren gebe es nur Hypothesen und keine aussagekräftigen Studienergebnisse. „Trotzdem werden Frauen damit behandelt.“

Trotz dieser beunruhigenden Realität gibt es Hoffnung, die so gar nichts mit High-Tech-Medizin und Risikoabschätzung zu tun hat. Rosemarie Seitz, vor zehn Jahren an Eileiterkrebs erkrankt und seit fünf Jahren „gesund“ – im Fachjargon heißt das „Remission“ –, wiederholt gerne den Satz, den ihr Arzt aussprach. „Sie sind nicht allein“, sagte er der 58jährigen Frau, die vier Monate nach dem Leukämietod ihres Mannes ihre Diagnose erhielt. Vier einfache Worte hat er ihr gesagt anstelle statistischer Wahrscheinlichkeiten oder möglicher Krankheitsverläufe. Und mit diesen vier liebevollen Worten hat er Rosemarie Seitz so viel Hoffnung gegeben, daß sie sie bis heute nicht vergessen hat.

Wie sie hat auch Juliane Beck unter Todesangst gelitten, wenn sie wegen ihres Asthmas kaum noch Luft bekam. Ihr Umgang mit dem Risiko lag in der Konzentration darauf, daß sie noch atmete, daß ihr der Atem mitteilte: die Todesangst ist nicht gerechtfertigt. Nach solchen Selbstwahrnehmungen ging es ihr besser. „Im heutigen Supermarktangebot von Therapiemöglichkeiten“, warnt die Familienrechtsanwältin Beck, „müssen Frauen ihre eigene Körperwahrnehmung ernst nehmen.“ Sie rät wie Beate Schücking zu einer vorsichtigen Wahl unter den medizinischen Möglichkeiten.

Für Barbara Duden ist die „persönliche Geschichte der Gradmesser“, um stimmige Entscheidungen fällen zu können. „Wie eine Frau früher gehandelt hat, so wird sie auch wieder handeln.“ Aus einer ängstlichen Frau werde so schnell keine mutige, aber „in kleinen Schritten läßt sich mit der Hilfe von Vertrauenspersonen erlernen, wie Frauen zu Entscheidungen finden, die für sie die richtigen sind“, sagt Heide Henkel. Während die Psychoonkologin auch der Meinung ist, daß jede Entscheidung eine individuelle sei, verweist Ulrike Hauffe auf das „komplexe gesellschaftliche System“, das auf Frauen einwirke.

Als kompetente Landesbeauftragte für Frauen in Bremen bringt sie politischen Zündstoff in die Diskussion. Sie möchte hin zu einer gesunden Lebenswelt für Frauen, denen in Kliniken und Gesundheitseinrichtungen sorgsam und ihrem Geschlecht gemäß begegnet werden sollte.

Daß 95 Prozent der Frauenärzte Männer sind und die Mutterschaftsrichtlinien von Männern formuliert wurden, zeigt deutlich, wieviel hier schiefläuft. Auf was können sich Frauen also verlassen, an was können sie sich halten, da sie nicht einmal vor der Medizin sicher sind? An Freundinnen und Gleichgesinnte, vertrauenswürdige Ärztinnen und Hebammen und vor allem an sich selbst. Darüber sind sich alle Fachfrauen einig.

Beate Schücking bringt die Wirklichkeit ironisch auf den Punkt: Nur auf den Tod sei hundertprozentig Verlaß. Und der tritt ein, wann und wie es ihm paßt.

*Name von der Redaktion geändert