Die Ruhe vor der Jahrhundertflut

■ Kastrophenalarm an der Oder. Während die Frankfurter noch hoffen, daß die Deiche halten, wird für Slubice das Schlimmste befürchtet Von Vera Gaserow und Theo Heimann (Fotos)

Die Ruhe vor der Jahrhundertflut

Wer sagt, daß Wasser redet? Dieses hier jedenfalls schweigt. Zäh und glatt fließt die Oder mit gespenstischer Lautlosigkeit. Wie ein träge lauernder Alligator schiebt sie sich braun und massig die deutsch-polnische Grenze entlang. Daß sie unberechenbar und gefräßig sein kann, hat die Oder in Polen und Tschechien unter Beweis gestellt. Doch erst jetzt, da die Flutwelle an brandenburgischen Deichen frißt, wird man sich auch in Deutschland der heranfließenden Macht bewußt – aber so richtig ernst nehmen will man sie im Zeitalter der Mars-Erkundungen und der technischen Beherrschbarkeit auch der banalsten Alltagsprobleme noch immer nicht.

In Frankfurt (Oder), der größten Stadt an der deutschen Seite der Oder, wo die Flutwelle voraussichtlich am Wochenende anlanden wird, herrscht eher Ausflugsstimmung denn Katastrophenalarm. Während der städtische Krisenstab fieberhaft über Landkarten brütet, Straßensperren vorbereitet und Evakuierungsszenarien durchspielt, flanieren die Frankfurter auf der Uferpromenade und blicken gebannt auf das Wasser zu ihren Füßen, das seit gestern stündlich fünf Zentimeter steigt. Kinder stellen die immer gleichen, nervig-klugen Fragen: „Kann das Wasser auch über die Mauer?“, Männer wissen schon heute besser, was nicht einmal Experten zu prognostizieren wagen: „So hoch wie die Kaimauer kommt das Wasser nie. Hundert Prozent!“ Frauen meinen, „daß wir halt mit dem Wasser leben müssen“, und die Kneipe im alten Oderspeicher bietet als Attraktion „Heute Pegeltrinken“.

Doch bei aller Gelassenheit steigt auch bei den Frankfurtern die Anspannung: Die Landeszentralbank verschanzt sich hinter Sandsäcken, im Rathaus werden die Akten in höhere Geschosse gebracht, und die Geschäfte in Ufernähe räumen das Erdgeschoß. Wie zur Mahnung hat die Textilreinigung Zeitungsartikel von 1930 ausgehängt. Damals, beim letzten Jahrhunderthochwasser, waren Teile Frankfurts abgeschnitten, und die Zeitungen vermeldeten: „Die beiden Finanzämter, das Hauptzollamt und das Eichamt stehen vollständig im Wasser.“ 1930 blieb die Oder bei 6,35 Meter über normal stehen. Heute rechnen die Experten mit einem Höchststand von 6,80 Metern, aber wenn die vorhergesagten Regenfälle entlang der Oder einsetzen, wird man auch diese Prognose nach oben korrigieren müssen. „Unsere Verteidigungslinie“, erklärt Frankfurts Bürgermeister Detlef Ewert generalstabsmäßig, „ist bei 6,60 Metern.“ Was niedriger liegt – und das sind in Frankfurt zum Glück nur einige wenig bewohnte Straßen –, wird „kampflos“ dem Wasser überlassen. Nein, richtig Angst haben die Frankfurter nicht. Da vertraut man auf die Kraft der neuen Kaimauer und auf die Perfektion deutscher Behörden, die am Ufer eine Million Sandsäcke deponiert haben, Deichläufer auf Patrouille schicken und Evakuierungspläne in den Schubladen haben. „Aber für die drüben, da sieht es böse aus.

“„Die drüben“, das sind die 17.000 Einwohner des polnischen Städtchens Slubice genau gegenüber, das deutlich niedriger liegt und keine Kaimauer hat. In Slubice haben sich die FrankfurterInnen am Mittwoch noch rasch für billiges Geld „die Haare machen lassen“ und die letzten Erdbeeren und zollfreien Zigaretten besorgt. Seit gestern sind die meisten Grenzübergänge geschlossen, und die Geschäfte in Slubice sind dicht.

Das geschäftige Städtchen gleicht einer Maulwurfslandschaft. Lastwagen der Armee schütten Sandberge auf die Straße, damit die Anwohner ihn in Säcke schaufeln. Das Optikergeschäft, der Computerladen, die frischrenovierte Boutique, sie alle haben ihre Schaufenster zugemauert aus Angst vor den Fluten und vor Plünderungen, denn Slubice und seine Nachbardörfer werden Geisterorte sein. Alle 17.000 Einwohner sollen die Stadt verlassen, so sieht es eine amtliche Weisung vor, die „Uwaga! – Achtung“ überall in der Stadt aushängt. Arzneien, lebenswichtige Kleidung, Personalpapiere und Lebensmittel – mehr nicht – sollen die Slubicer mitnehmen, wenn die Busse sie ins Hinterland bringen. Einige tausend Einwohner haben sich bereits selbst auf den Weg gemacht. So wie Anna Schubert in ihrem Lebensmittelgeschäft direkt hinter der Oder-Brücke. Ihre Wohnungseinrichtung hat sie ins Auto gepackt. Sie wird nach Krosno fahren zu Verwandten. Die nächsten zwei, drei Wochen wird man wohl nicht zurückkönnen, zuckt Anna Schubert die Achseln.

Trotz Evakuierungsbeschluß wollen viele Einwohner ihre Wohnungen nicht verlassen. Etliche sperren sich aus Angst vor Plünderungen. „Dabei hat es gerade in den letzten Tagen keinen einzigen Diebstahl in Slubice gegeben“, beruhigt die Stadtverwaltung, „die Diebe verlassen das sinkende Schiff.“ In den umliegenden Dörfern hat man schon zur Wochenmitte das Vieh evakuiert, doch die Bauern wollen bis zum letzten Moment bleiben. Polnische Soldaten schichten längs der Landstraßen die Deiche auf. Auf deutscher Seite wurden die meisten Deiche nach der Wende erhöht, doch auch hier weiß niemand, ob die Dämme der tagelangen Durchfeuchtung und der bohrenden Kraft von mitgeschwemmten Baumstämmen standhalten werden. Am Frankfurter Oder-Ufer steht Dieter Wilhelm, und es könnten ihm „die Tränen kommen“, wenn er „an die drüben“ denkt, „die es jetzt so hart trifft“. Er ist in Slubice geboren, hat viele Freunde und Bekannte dort. Jederzeit könnten die zu ihm kommen und bei ihm wohnen. Auch die Stadt Frankfurt hat der Partnergemeinde Hilfe angeboten. Doch in Slubice sagt man nicht ohne Stolz: „Wir haben genug eigene Möglichkeiten für die Evakuierung.“ Viele Slubicer haben längst die Erfahrung gemacht, daß sie bei den Frankfurtern nicht gerade willkommen sind. Bezeichnenderweise machte Anfang der Woche in Slubice ein frei erfundenes, bösartiges Gerücht die Runde: Um Frankfurt zu retten, sollte in Slubice der Deich gesprengt werden. Im Gegenzug werde die deutsche Seite den Wiederaufbau des gefluteten Städtchens finanzieren.