Leben ohne Eisenbahn

Kümmelschnaps und Krabbentorte: Der isländische Cowboy-Karneval lockt mit obskuren Performances im Roten Salon  ■ Von Wolfgang Müller (derzeit Reykjavik)

Wo gibt es schon die Möglichkeit, ein richtiges isländisches Kunstfestival zu erleben? Die isländische Sprachgesellschaft, die für jedes Fremdwort ein heimisches Wort gefunden oder kreiert hat, nennt Performance „gjörningur“, „Tätigkeit“. Der „gjörningaklubburinn“, also der Performance-Club, nennt sich einfachheitshalber „Icelandic Love Corporation“ und ist im Roten Salon vertreten durch Jóni Jónsdóttir und Eirun Sigurdurdóttir. „Wir kümmern uns um das Wohlbefinden des Publikums“, versichert Jóni und klimpert mit den Augendeckeln, unter denen zwei recht blau strahlende Augen hervorschauen: „Liebe, Freiheit, Schönheit und Sex – das sind unsere Themen.“

Aus dem Reykjaviker Künstlercafé „Mocca“ – seit über 40 Jahren mit dem gleichen braunen Wandschmuck und Mobiliar versehen – schufen sie durch geschicktes Umdekorieren eine Mischung aus Puppenstube und Rotlichtmilieu. Jóni und Eirun versorgten im Krankenschwesterndreß die verstörten Gäste mit täglichen Fußmassagen, Wohlgerüchen und Gelee-Snacks. Pin-ups beiderlei Geschlechts hängen an den Wänden. „Vielleicht werden wir im Roten Salon eine Autopsie an einem Mayonnaisekuchen vornehmen“, orakelt Jóni, und es klingt verlockend.

Die beliebte Brot-und-Krabben-Torte paßt nämlich hervorragend zu „Brennevin“, dem „Schwarzen Tod“, einem heimischen Kümmelschnaps, den die ersten 50 Besucher des Isländischen Cowboy-Carnevals gratis kredenzt bekommen. Für die musikalische Gestaltung sorgt das Beef Jerky Quartett mit Rockabilly aus Reykjavik. „Wir sind eine reine Instrumentalband“, so Gitarrist und Die-Haut-Fan Grjóni, „und unser Gig in Berlin ist auch eine Art Record-Release-Party für die neue CD ,Karnival i Texas‘.“

Karneval in Texas? Im Grunde, bestätigt Jóni, sind die IsländerInnen die ersten richtigen Cowboys und -girls gewesen. Das Pferd war über Jahrhunderte das wichtigste Fortbewegungsmittel über Land, in Amerika hat es ja schon ziemlich früh Eisenbahnen gegeben, während auf Island erst 1910 die erste Straße gebaut wurde. Eine Eisenbahn gibt es bis heute nicht. Und die Landschaft sieht doch teilweise sehr nach texanischer Wüste aus, nur eben in Schwarz.

Trotzdem soll der amerikanische Einfluß, besonders durch die Rockmusik und die Nato-Airbase in Keflavik, nicht verleugnet werden. Der Abend wird eingeleitet mit Kurzfilmen isländischer Filmemacher, die die isländische Rockgeschichte von den späten Sechzigern bis in die Gegenwart dokumentieren. DJ Hrönn präsentiert „The Best of Icelandic Music“ von Techno bis Grand-Prix-Star Páll Óskar – vorwiegend Produktionen des Bad-Taste-Labels von Einar Benediktson, einst Mitglied der Sugarcubes.

Mit großer Spannung erwarten die Künstler aus Reykjavik den „Isländer-Look-alike“-Wettbewerb. Alle Nichtisländer können sich daran beteiligen. Dabei geht es nicht um Schönheit – zweimal, nämlich 1986 und 1989, stellte Island die Miss World – sondern bloß um Ähnlichkeit.

Der isländische Cowboy-Karneval, heute ab 21 Uhr im Roten Salon der Volksbühne, Rosa-Luxemburg-Platz