Wand und Boden
: Aus dem fahrenden Auto geschossen

■ Kunst in Berlin jetzt: Rivka Rinn, Henrietta Lehtonen, Jörg Dedering

Vielleicht ist es falsch, die 3.000 Fotografien, die Rivka Rinn in den vergangenen sechs Jahren mit einer simplen Automatikkamera aus dem fahrenden Auto, dem Zug, der U-Bahn oder dem Flugzeug heraus geschossen hat, die sie „Geschwindigkeitsteilchen“ nennt und zum Video „Velocity Particles“ (1997) montierte, nicht als den Abgesang auf das Reisen zu betrachten.

Aber die Achtelsekunden Autobahn, nachts, bei Regen, die man hinter Modena vermuten möchte; die Abzweigung Kufstein, die an das ewige Die-Alpen-Rauf-und-Runterrutschen erinnert, weil dahinter Italien liegt, wohin man anscheinend immer unterwegs war – das ist nicht das vielbeschworene „Längst-Angekommensein, bevor wir überhaupt abreisen“. Die Bilder sind so verwischt nicht, daß sie nicht Geschichte einfangen könnten, und das Schild der S-Bahn-Station Wannsee liest sich in der Achtelsekunde so klar, daß man meint, das Video sei für einen Moment stillgestellt. Es ist eine triviale Feststellung, daß Reisen auch Freiheit bedeutet – allerdings nicht gegenüber den sechs Bildtafeln „Time Station“ im Georg Kolbe Museum.

Rivka Rinn hat die Arbeit der Journalistin und Kafka- Freundin Milena Jesenská gewidmet, die 1944 in Konzentrationslager Ravensbrück umkam. Die Motive einer Brücke, eines Tunnels, einer Stadtautobahn, einer Mautstation und einer Fabrik sind mit Schrifttafeln kombiniert, auf denen sich unterschiedliche Tortenrezepte entziffern lassen. „Was wird die Dame kochen?“ hieß eine Gedankenreise, die die hungernden Häftlinge von Ravensbrück in ein Schlaraffenland führte, das ihnen überlebensnotwendig war. „From the Place to the Memory of the Place“, eine Arbeit von 1992, die in der Parallelausstellung der Galerie Andreas Weiss zu sehen ist, gibt das Leitmotiv für Rinns Anliegen.

Natürlich ist das Reisen heute merkwürdig zufällig geworden. Auch dieses Moment läuft in den Siebdrucken auf Leinwand, Aluminium und Emaille oder den computergesteuerten Ink-jet-Drucken mit. Es ist die Dialektik von Gedächtnis und Kontingenz, was Rinns Bilder von den dunstig changierenden Weißtönen eines nachts angestrahlten Hinweisschildes oder von den gelben Lichtkegeln, die in den schwarzen Schlund eines Straßentunnels führen, bedeutsam macht, diese Signaturen einer Welt, die dann doch als ein einziger Transitraum erscheint.

Bis 31.8., Di.–So. 10–17 Uhr, Sensburger Allee 25; Galerie A. Weiss, bis 23.8. Di.–Fr. 14–19, Sa. 11–15 Uhr, Leibnizstr. 45

Mit zwei Licht- und zwei Materialinstallationen sowie einer Videoprojektion ist Henrietta Lehtonen nach Berlin gereist. In der Zwölf-Apostel-Kirche zeigt sie die Weiterentwicklung ihres „L'enigma del Campo“, das sie 1995 auf der Biennale von Venedig zum Leuchten brachte. Das täppische Neugeborene, das damals von der Kirchenwand strahlte, ist nun durch ein abstraktes „Lichtphänomen“ ersetzt.

Auch im Haus am Lützowpatz arbeitet die 34jährige Künstlerin mit knapper, aber entschiedener Geste. In einem transparenten Glasregal liegen luftige Haarknäuel, die Lehtonen aus ihrer Bürste zog. „Sich selbst verstehen“ ist das Projekt, das sie verfolgt. Welche Informationen enthalten die Haare? Und welche sind in Lehtonens Bewußtsein, wenn sie dessen doch gar nicht mächtig ist? Das ganze dreht sich im Kreis, und die Videoprojektion zeigt die Künstlerin beim Hypnotiseur. „Was ist eine richtige Frage? Was ist eine wichtige Frage? Wie ist ein wesentliches und möglichst gelungenes Kunstwerk beschaffen?“

So lauteten drei der fünf Fragen, auf die ihr Innerstes antworten sollte. Es erweist sich als recht rabiat, wütend will es nicht befragt werden. „Erst tun, dann denken“, stellte es fest. Diese Antwort richtet sich eigentlich gegen ihre Selbsterforschung. Ist sie der unbekannte Gedanke, dem Henrietta Lehtonen das grüne Filzgespenst hinter der transparentgrünen Plastiksperre widmete? Heißt Kunst, den Mut zu haben, wider besseres Wissen zu handeln?

Bis 31.8., Di.–So. 11–18 Uhr, Lützowplatz 9

Von Bielefeld nach Berlin zugereist ist 1992 Jörg Dedering. Seitdem hat er jedes Jahr eine Serie von Fotos aufgenommen. Fünf fotografische Erzählungen dokumentieren jetzt in der Galerie Printbox Berlins Aufbruch in die neue Zeit. Dedering arbeitet, wie es die jungen deutschen Fotografen zuletzt gern tun, mit Farbe. In seinen Bildern scheint sie allerdings noch ein wenig blasser zu sein als bei den anderen. Das paßt ins sommerliche Berlin, in dem der blaßgelbe Sand in den Straßen, vor allem aber von den Baustellen her staubt. Naturgemäß sind die ein zentrales Motiv seiner Bilder.

Am Anfang allerdings ist es erst einmal das fremde Ostberlin, das er in ganz verschiedenen Fensterscheiben gespiegelt sieht. Da gab es noch vielerlei Spitzenvorhänge, in denen dann beispielsweise der weiße Fuß des Fernsehturms am Alexanderplatz schimmert.

Jede Serie hat der junge Fotograf anders gerahmt, den Anfang machen Hinterhofblicke – schlicht aufgezogene Bildquadrate –, dann folgen die Spiegelbilder in klassisch rahmenlosem Glas, und je mehr der Berliner Bauboom architektonische Gestalt annimmt, desto solider wird der Rahmen mit Passepartout und Holz. Die blauen Container verschwinden mehr und mehr zwischen dem emporwuchernden Beton. Am schönsten ist ein Bild vom Potsdamer Platz, das die ersten, noch völlig verloren wirkenden Kräne im Aufbau festhält.

Bis 22.8., Mo.–Fr. 13–19 Uhr, Zimmerstraße 11 Brigitte Werneburg