Gummistiefel nur mit Genehmigung aus Warschau

■ In Polen werfen Experten der Regierung vor, den Katastrophenschutz trotz wiederholter Warnungen über Jahre sträflich vernachlässigt zu haben

In ganz Polen regnet es, in Breslau wie in Warschau – mit dem Unterschied, daß in der schlesischen Metropole schon vor einer Woche die Lichter verloschen sind. Noch immer können über die Hälfte der knapp 700.000 Einwohner Breslaus kein Licht machen, kein Essen kochen, keine Bekannten oder Familienangehörigen anrufen. Nicht einmal waschen können sie sich. Die gesamte Infrastruktur ist zusammengebrochen. Der tagelange Nieselregen zermürbt. In den Überschwemmungsgebieten kippt die Stimmung. Die Vorwürfe gegenüber der Regierung in Warschau werden immer lauter.

Mit jedem Tag decken die Medien neue Versäumnisse auf. Dramatisch sind insbesondere die Klagen der Hinterbliebenen von Opfern der Flut. „Wenn ich gewußt hätte, daß unser Haus in nur vier, fünf Stunden völlig unter Wasser steht, hätte ich meine Mutter noch retten können. So bin ich zu spät gekommen“, stöhnt ein Mann aus Oppeln. Eine junge Frau wischt sich verzweifelt die nassen Haare aus dem Gesicht: „Mein Mann ist tot. Wer gibt ihn mir zurück?“ Tatsächlich muß sich die Regierung in Warschau fragen lassen, ob das Ausmaß der Katastrophe nur auf die schweren Regenfälle zurückzuführen ist. Mußten 49 Menschen sterben? Mußten Zigtausende ihr Hab und Gut verlieren? Mußte bei dem Jahrhunderthochwasser das Chaos ausbrechen? Experten werfen der Regierung vor, daß sie den Katastrophenschutz über Jahre hin sträflich vernachlässigt hat. So stimmten die Funkfrequenzen von Polizei, Armee und Rettungsdiensten nicht überein, die Ausbesserungen der Deiche und Wälle waren Sparmaßnahmen zum Opfer gefallen, und die Feuerwehr verfügte in vielen Fällen nicht einmal über die Grundausrüstung.

Schon vor drei Jahren hatte das Oberste Kontrollamt, eine Art Rechnungshof, das Szenario einer Hochwasserkatastrophe entworfen. Doch die Regierung hat die Warnungen in den Wind geschlagen. So wurden die Deiche im niederschlesischen Ratibor nicht erhöht, wie die Kontrolleure gefordert hatten. Die Folge: Das Hochwasser verwüstete die Stadt in weniger Stunden.

Viele der knapp tausend Orte, die heute unter Wasser stehen, hätten gerettet werden können, wenn die Regierung jährlich, wie es das Kontrollamt forderte, 160 Kilometer Deiche hätte ausbessern oder neu bauen lassen. Doch bewilligt wurden seit der demokratischen Wende von 1990 jährlich nur 40 bis 50 Kilometer Deichbau.

Viele Orte und Menschenleben hätten gerettet werden können, wenn von vornherein klar gewesen wäre, wer im Katatrophenfall das Sagen hat. Fatale Folgen hatten die Kompetenzstreitigkeiten im Falle Breslaus. Die Deiche flußaufwärts sollten gesprengt werden, um die Stadt zu retten. Dies hatte der stellvertretende Woiwode (Bezirkschef) angeordnet. Doch die Bauern, deren Höfe überflutet worden wären, weigerten sich: „Nicht auf unserere Kosten!“ Sie zogen die Sprengladungen wieder aus den Deichen, und niemand hinderte sie daran. Die Folge: Überflutet wurden nicht gut hundert Bauernhöfe, sondern die Großstadt Breslau. Die Schäden werden inzwischen auf mehrere Milliarden Zloty (1 Zl = ca. 0,56 Mark) geschätzt. Der stellvertretende Woiwode ließ zwar einen Tag später die Oder- Deiche flußabwärts sprengen. Doch da war es bereits zu spät.

Die Konzentration der Befehlsgewalt in Warschau geht soweit, daß der Innen- und Verwaltungsminister Leszek Miller sogar den Kauf von Sandsäcken, von Gummistiefeln und Handschuhen für die Freiwilligen genehmigen muß. Ohne einen „Befehl von oben“ wagt kein Woiwode oder Bürgermeister eine Entscheidung zu treffen, da diese möglicherweise von „der Zentrale“ nicht gedeckt wird.

In einer Sondersitzung des polnischen Parlaments warf der liberale Oppositionspolitiker Bronislaw Geremek der Regierung Inkompetenz und Passivität vor: „Eine Hochwasserkatastrophe ist ein Test für das Funktionieren des Staates. In so einem Moment zeigt sich, ob wir wissen, warum wir Steuern zahlen, warum wir Vertrauen in den Staat haben können.“ Gabriele Lesser, Warschau