Identifikation mit Trauerrand

Engagierte Poesie der Gebrauchsgüter: Das Sprengel Museum Hannover widmet Felix Gonzales-Torres eine Retrospektive und vergißt dabei den aktivistischen Hintergrund des New Yorker Künstlers, der 1996 an Aids gestorben ist  ■ Von Lutz Hieber

Das Museum ist ein Ort des Sehens. Sehen heißt: Bitte nicht berühren! Kunstwerke sind schließlich Werte. Nicht nur kulturelle, sondern auch ökonomische Werte.

In Ausstellungen mit Werken von Felix Gonzalez-Torres ist diese Museumswelt ein Stück weit auf den Kopf gestellt. So ist im Sprengel Museum Hannover ein großer Teppich von Bonbons in Silberfolie ausgebreitet. Er füllt fast die Hälfte eines Saales, mehrere hundert Kilogramm liegen bereit. Man darf sich bedienen.

Zum Zugreifen laden außerdem einige Papierstapel ein. Einer davon trägt den Titel „Untitled (Republican Years)“. Er besteht aus großformatigen weißen Blättern mit schwarzem Rand. Seine „ideale“ Höhe, die er etwa zu Beginn einer Ausstellung hat, liegt bei 20 Zentimetern. Weil sich die Leute Blätter mitnehmen, nimmt er nach und nach ab. Wird er zu niedrig, muß wieder nachgedruckt werden.

Daneben allerdings gibt es Ausstellungsstücke, die sich in die inzwischen üblichen Museumskonventionen fügen. Dazu zählen eine Glühlampenkette oder ein Vorhang aus Plastikperlenschnüren. Ihre Anordnung wird für jeden Ausstellungsort frei gewählt. Außerdem sind Farbfotografien und Puzzles zu sehen. Über dem Eingang zur Ausstellung befinden sich zwei batteriebetriebene Uhren nebeneinander, die im Gleichklang gehen. In einem Raum hängen einige kleinformatige schwarze Tafeln, die jeweils nahe am unteren Rand weiße Schriftzeilen enthalten. Es sind Photostats, das heißt Druckvorlagenfilme. Draußen in der Stadt setzt sich die Ausstellung auf Plakatwänden fort. Ein Großplakat gibt die Schwarzweißfotografie von zwei Kopfkissen auf einem Bett wieder, das soeben verlassen wurde. Ohne jeden Text befindet es sich zwischen den üblichen Werbeplakaten.

Gemeinsam ist fast allen Exponaten, ob sie nun ausdrücklich gegen den Museumskanon verstoßen oder nicht, daß sie aus industriell gefertigten Gegenständen bestehen. Die Glühbirnen, Porzellanfassungen und Kabel der Lichterketten kann man in jedem Elektrogeschäft kaufen. Das Plakat draußen gibt einen schlichten Schnappschuß wieder.

Felix Gonzalez-Torres verhilft also ein weiteres Mal den Dingen zu einer Bedeutung, die wegen „Belanglosigkeit“ aus der zumal ernsten Kunst verdrängt sind. Seine Haltung knüpft an die Pop- art und vor allem an die Konzept- und die Minimalkunst der frühen sechziger Jahre an. So ist auch er jenem revolutionären Anstoß verpflichtet, der ehedem vom Dadaismus und Duchamp ausging.

Anders als dieser setzt Gonzalez-Torres jedoch die Macht des ästhetischen Umfeldes dazu ein, die alltäglichen, industriell hergestellten Massenwaren selbst in ihrer Bedeutung vorzuführen. Für ihn eignen sich auch und gerade die einfachen und belanglosen Dinge als künstlerische Mittel, um ästhetische Aussagen zu formulieren. Doch wie verhält es sich mit diesen Aussagen? Was sind die Themen von Gonzalez-Torres?

Kein Kunstwerk ist allein aus sich heraus vollständig verständlich. Bei Kunstwerken früherer Jahrhunderte bemüht sich die Kunstwissenschaft um außerbildliche Quellen, vorwiegend Texte, um die dargestellten Themen zu entschlüsseln. Das Identifizieren der Bildthemen, das sich auf Hinzuziehen weiterer Informationen stützt, wird als Ikonographie bezeichnet.

Beim Zugang zu älterer Kunst ist die ikonographische Analyse unverzichtbar, weil die damals selbstverständlichen Konventionen und Vorstellungen heute zum großen Teil nicht mehr geläufig sind. Entsprechendes gilt, und das ist nun ein entscheidender Punkt, ebenfalls für weite Bereiche der Gegenwartskunst.

Kulturelle Vermittlung wäre auch bei Gonzalez-Torres nötig. Dennoch beschränken sich die ikonographischen Hinweise in der Ausstellung auf Schildchen mit knappen Titeln. So wird unter der Hand die kulturelle Situation Mitteleuropas zum Interpretationsmaßstab erhoben. Der Zugang zur Kunst Gonzalez-Torres', der in New York lebte und dort 1996 mit 37 Jahren an Aids starb, wird dadurch nicht erleichtert, ja ein Stück weit nähern wir uns ihr auf dem Holzweg.

Greift man das Beispiel eines der Photostats von 1988 heraus, mit der Schrift „Helms Amendment 1987 Anita Bryant 1977 High-Tech 1980 Cardinal O'Connor 1988 Bavaria 1986 White Night Riots 1979 F.D.A. 1985“ – was ist dann damit gemeint? Worauf verweist „Bavaria 1986“ – um nur diesen einen Vermerk genauer zu betrachten? Wäre es nicht nützlich, wenn man wüßte, daß in dieser Zeit in New York eine kämpferische Bürgerrechtsbewegung für Aufsehen sorgte, die sich der Aidskrise widmete? Gonzalez-Torres und seine Freunde haben Aids als politisches Problem verstanden, das durch Forschung, Aufklärung, Gesundheitswesen und Pharmaindustrie bewältigt werden könnte – aber nicht wird. Vor diesem Hintergrund erst wird erkennbar, warum „Bavaria 1986“ auftaucht. Der damalige Staatssekretär im bayerischen Innenministerium, Peter Gauweiler, verfocht Pläne, nach denen HIV-Positive interniert werden sollten. Die kritischen New Yorker Intellektuellen nahmen seine Politik zur Kenntnis. Auch der Stapel „Untitled (Republican Years)“, der 1992 entstand, erklärt sich nicht von selbst. Das Jahr 1992 war für New York, wo im Juli auch der Wahlkampf-Parteitag der Demokraten mit Bill Clinton stattfand, durch kreative grassroots movements gekennzeichnet. Dazu engagierte sich ein Großteil der Kunstwelt, um zur Beendigung der konservativen Reagan-Bush- Ära, der republican years, beizutragen. Ein Hinweis auf diese Ereignisse würde zu erahnen helfen, worauf die große weiße Leere der Blätter, die mit einer Art Trauerrand umsäumt ist, verweist. Damit würde die Poesie der Werke nicht zerstört, sie könnte jedoch für europäische Besucher präziser gefaßt werden.

Indem die Ausstellung den New Yorker Kontext verschweigt, trägt sie zu einer Neutralisierung der Kunst Gonzalez-Torres' bei. Die Präsentation läßt – wie die Hannoversche Allgemeine lobte – eine „sakrale Aura“ entstehen! Damit fügt sich das Ausstellungskonzept in den geistigen Mainstream der Kohl-Republik.

Bis 24. 8., Sprengel Museum Hannover; 6. 9. bis 16. 11., Kunstmuseum St. Gallen