■ Gerhard Schröder sollte noch mehr „Strauß-Parolen“ ausgeben – um Kanzler einer rot-grünen Regierung zu werden. Nur mit grünen Thesen ist 1998 nichts zu gewinnen
: Der an die Stammtische lädt

Ist es tatsächlich abwegig, wenn für eine rot-grüne Mehrheit bei den Bundestagswahlen 1998 eine professionelle Arbeitsteilung abgesteckt wird, nach der die Grünen die traditionsalternativen und -linken Stimmen gewinnen und dafür die SPD in der bisher von der CDU dominierten gesellschaftlichen Mitte erfolgreich um die nötige Akzeptanz eines Regierungswechsels buhlt? Ist „naiv“, wer hinter den Äußerungen des SPD- Kanzlerkandidatkandidaten Gerhard Schröder ein „trickreiches Kalkül“ vermutet? Ist Schröder gar eine politische Skandalnudel, mit dem es, wie die taz gestern kommentierte, eine rot-grüne Bundesregierung nicht geben kann?

Dabei hat der Mann in Bild am Sonntag nichts anderes getan, als die Ängste vieler Menschen ernst zu nehmen. Er fordert, daß auch in Deutschland „die Polizisten wieder auf die Straße“ müßten, die „Bürger müssen sie sehen“. Die Präsenz der Ordnungshüter will der Niedersachse nicht nur an Orten gewahrt sehen, wo es lediglich „Blechschäden“ zu protokollieren gibt: vielmehr sollen sie „Verbrecher bekämpfen“.

Darüber hinaus gab Schröder zu verstehen, daß Multikulti die Theorie ist, die Praxis ihm jedoch sagt, daß „beim organisierten Autodiebstahl die Polen nun einmal besonders aktiv“ sind, „das Geschäft mit der Prostitution“ von der „Russen-Mafia“ dominiert werde und Drogenkriminelle „besonders häufig aus Südosteuropa und Schwarzafrika“ kommen.

Ausländer, die ihr „Gastrecht“ mißbrauchten, müßten „raus, und zwar schnell“. Wie wahrscheinlich auch Schröder geahnt haben wird, beleidigen diesen Thesen das grüne Weltverständnis schwer. Aber das ist kaum überraschend, weil es nie zu seiner Strategie gehörte, die Grünen auf dem Felde politischer Korrektheit zu übertrumpfen. Insofern darf angenommen werden, daß die Schröderschen Einlassungen weniger an die grüne Wählerschaft gerichtet waren – die ja die Bild am Sonntag auch nicht goutieren –, sondern an die Menschen, die in den letzten 15 Jahren einer christliberalen Koalitionen allen Alternativen den Vorzug gaben.

Trotzdem ist eine Würdigung der grünen Reaktionen interessant. Jürgen Trittin, grüner Vorstandssprecher, kommentierte in der taz die Äußerungen des möglichen Kohl-Nachfolgers als „neurotische Phantasie“, weil sie „Teil einer unseligen Tradition der Sozialdemokraten“ seien, „mit rechten Themen Stimmen der CDU abzujagen“.

Der Grüne sagt also nicht, ob es falsch oder richtig war, was Schröder meinte, sondern diffamiert ihn als Rechten. Dabei wäre zu fragen, ob der Kanzler in spe nicht ein bis weit ins grüne Milieu hineinreichendes Unbehagen an der bundesdeutschen Wirklichkeit aufgreift. Eine, zu der die „Russen- Mafia“ ebenso gehört wie Autoschieber aus Polen, Dealer aus Schwarzafrika? Eine, zu deren Beschreibung auch eine wachsende Gewaltbereitschaft unter Jugendlichen, Neonazis, verwüstete Schulen, Armut in den Vorstädten und ein steigender (Volks-)Drogenkonsum genannt werden müssen.

Ist das Thema Innere Sicherheit schon deshalb ein rechtes, weil dazu der Polizeiapparat gehört? Ist es antiliberal, die lebenslängliche Verwahrung von Sexualmördern zumindest für diskutabel zu halten? Oder rechts – den Faden mal weitergesponnen –, das Asylrecht für politische, aber nicht für Armutsflüchtlinge bereitzuhalten? Ist es schon nationalistisch, die Osterweiterung der EU deshalb für ein Problem zu halten, weil Arbeitskräfte aus Polen, Slowenien, Tschechien und Weißrußland die Tarife im deutschen Baugewerbe versauen?

Sozialdemokratische Politiker haben immer eine schlechte Presse in der linksalternativen Szene, wenn sie ihre Thesen nicht seminaristisch vortragen, wenn also das, was sie mitteilen möchten, auch an den sogenannten Stammtischen verstanden wird. Schröder ist klug genug, nicht auf die zehnprozentige Wählerschaft der aufgeklärten grünen Mittelschichten Rücksicht zu nehmen, sondern auf jenes Klientel in der Mitte der Gesellschaft, das Kohl & Co. deshalb kritisiert, weil sie das Gemeinwohlprojekt „Bundesrepublik Deutschland“ vor allem durch ihre verfehlte Wirtschafts- und Sozialpolitik auf den Hund bringen.

Schröder muß für sich und den Erfolg der SPD alles tun, grünenfern zu agieren. Er muß die Menschen erreichen, die keine grundsätzlich andere Politik wollen, aber nicht zulassen möchten, daß die Armut wächst und die ökonomischen Verhältnisse noch unsicherer werden. Schröder muß also eine Wählerschaft erreichen, die von großartigen Zukunftsentwürfen rot-grüner Strategen nicht angetörnt werden, weil sie mit den Verhältnissen, wie sie sind, im Grunde einverstanden sind.

Und Menschen, denen wirtschaftlich (nicht nur im Osten) die Angst im Nacken sitzt, weil sie für sich keine Zukunft sehen – was nur unzulänglich mit der Furcht vor den Folgen der Globalisierung umschrieben ist. Deshalb liegt Schröder goldrichtig mit seinem Hinweis an die Öko-Bewegung, daß erst eine blühende Ökonomie ökologische Zukunftsprojekte ermöglicht.

Der Kandidat lädt insofern direkt an die Stammtische ein – ob es sich nun um solche handelt, die in schicken Bistros stehen oder in württembergischen Gasthöfen. Der amerikanische Philosoph Richard Rorty hat in der jüngsten Ausgabe der Zeit dankenswerterweise seine Kritik an der 68er Linken erneuert: Sie sei eine „kulturelle Linke“, die die Fragen der Armut und der Ökonomie vernachlässigt habe. Eine, möchte man hinzufügen, die recht haben, aber nicht bekommen will.

In diesem Sinne hat mit Tony Blair in Großbritannien auch kein Law-and-order-Mann gewonnen, sondern ein Sozialdemokrat, der die Frage der Inneren Sicherheit nicht vernachlässigt hat – das hat ihn gegen die Konservativen stark gemacht. Dies weiß Schröder und müssen die Grünen in Rechnung stellen: Der Kandidat wird sie nicht darin übertreffen wollen dürfen, der oberste Grüne zu sein.

Alle, die sich von einem Regierungswechsel ein grundsätzlich anderes versprechen, werden die Wahlen verlieren. Wenn nach einem Regierungswechsel sich nur ein bißchen ändert, wenn aus einem großen ein kleines Übel wird, wäre viel mehr gewonnen als alles, was an sogenannten Zukunftsprojekten jetzt noch phantasiert wird. Jan Feddersen