Das Hochwasser wirkt als prima Bindemittel

■ Flut in der brandenburgischen Oderregion fördert die Verständigung zwischen Deutschen aus Ost und West. Auch Bundeskanzler Helmut Kohl reist heute nach Frankfurt (Oder)

Berlin (taz/AP) – Unaufhaltsam gurgelt das Wasser durch die Deiche. In Ratzburg, wo Oder und Neiße zusammenfließen, stand die Flut gestern bei 6,67 Meter. Die Sandwälle werden nicht mehr lange Schutz bieten, befürchten die brandenburgischen Umweltbehörden. Sie bereiten die Evakuierung von einzelnen Dörfern vor.

In Polen zeigt sich die Flut dramatischer. Dort wurden bereits 140.000 Menschen evakuiert. Die Regierung in Warschau befürchtet, daß sich Krankheiten wie die Ruhr ausbreiten werden. Allerorten wird mit einer zweiten Hochwasserflut gerechnet. In Frankfurt (Oder) wurde zeitweise der Strom abgeschaltet, die ersten Bewohner verließen die Stadt. In den nächsten Tagen, so die Meteorologen, könnte der Pegel um einen halben Meter steigen.

Jenseits der Katastrophenstimmung stimuliert das Wasser auch die Hilfslaune der Großstädter. Seit gestern stehen streikende Berliner Bauarbeiter parat, mit Schaufeln und Pumpen die Deiche zu sichern. Kurzfristig könne man 400 Kollegen „aktivieren“, meint Holger Bartels, Pressesprecher der Gewerkschaft IG BAU. Die Konvois fahren aber erst, „wenn die zentrale Katastropheneinsatzzentrale uns ruft“, so Bartels. Der stellvertretende Landesvorsitzende des DGB fährt heute ans Wasser, um zu schauen, was zu tun ist. „Sollen wir zu Spenden aufrufen, beim Deichschutz helfen oder in Berlin für Ausweichquartiere sorgen?“ Eines scheint sicher: „Die Hilfe wird uns Westler und Ostler einander näherbringen.“ Wasser als Bindemittel der deutsch-deutschen Einheit. So sieht es auch der IG- Metall-Sekretär Wied in Frankfurt. Vergangenen Freitag schleppte er freiwillig mit 15 Kollegen Sandsäcke an die Kaimauer im Winterhafen. Berliner, die sich das Naturschauspiel der übertretenden Oder aus der Nähe anschauen wollten, wurden gleich arbeitsverpflichtet. „Obwohl einige Stoffhosen anhatten, machten sie mit.“ So zufrieden der Gewerkschafter ist, geärgert hat er sich aber auch. Als die Mauerverstärkung fast fertig war, so gegen vier am Nachmittag, bog ein Trupp Bundeswehrsoldaten um die Ecke. „Da haben wir alle geklatscht und gerufen: Guck einer an, die Steuergelder sind auch schon da.“ Überhaupt, die Uniformen, davon sehe man zu wenige in Frankfurt. Schaut Wied ans gegenüberliegende Oderufer, nach Slubice, sieht er viele Soldaten. „Da ackert massenhaft Armee mit. Die Polen begreifen das Wasser als nationale Aufgabe.“

Der deutsche Kanzler auch. Angesichts steigender Pegel will Helmut Kohl seinen Teil dazu beitragen, die Flut zurückzudrängen. Kurzfristig beraumte er für heute Mittag, 14 Uhr, einen Besichtigungstermin in Frankfurt an, um hernach im nahe gelegenen Eisenhüttenstadt ein Warmwalzwerk in Betrieb zu nehmen. Annette Rogalla