„Das ist Gegenwart“

Wie die AufseherInnen in der Galerie der Gegenwart all die moderne Kunst aushalten  ■ Von Christine Holch

Mehrmals täglich kommt die Frage: „Wie halten Sie das eigentlich aus, dieses Geschrei?“Zweiter Stock, Galerie der Gegenwart: Von Bildschirmen brüllt ein Glatzkopf „Hurt me, eat me.“Der Schreihals ist Kunst, heißt „Anthro/Socio“und stammt von Bruce Naumann. Und, wie hält er das aus? „Man gewöhnt sich“, sagt Aufseher Walter Mülfarth trocken. Außerdem sei man bei Naumann höchstens einmal im Monat, die Chefin bevorzuge niemanden. „Aber wenn ich da einen Tag war, ist abends Aspirin angesagt.“

Der Rentner tut gerne Dienst in der Galerie der Gegenwart: Die Luft ist viel besser als in der Kunsthalle. „Und man hat die Chance, mal rauszugucken.“Bei Regen gehen die Jalousetten hoch. Viel zu selten, findet Mülfarth. „Was meinen Sie, wieviel Hamburger hier ihren Besuchern die Stadt von oben zeigen wollen.“

Früher war er Kunstbanause, sagt Mülfarth, der früher „leitender Angestellter in der Stahlindustrie“war. Und auch heute könne er, trotz allen Hineindenkens, mit dem Iglu von Mario Merz einfach nichts anfangen. Und auch von seinen ebenso kunstmuffeligen Bekannten konnte er bislang nur drei herlocken. Die kamen dann nur wegen ihm.

Doch wehe dem, der sich bei Walter Mülfarth beschwert über die scheußliche moderne Kunst! „Du warst eben in der Galerie der Gegenwart, da wird die Gegenwart dargestellt“, sagte er etwa zu seiner Tante, „was sich außerhalb der Kunsthalle abspielt, ist grausamer als das hier drin.“

Viele Treppenstufen tiefer tut heute Christine Dietzel Dienst: in der großen Halle im lichtlosen Sockelgeschoß. Kein lauter, aber ein auf den ersten Blick fader Arbeitsplatz: Werke aus Reisig, Schieferplatten und Holz liegen herum. Fad? Aber nein! „Es ist hier so weit, man kann tief atmen – ich könnte loslaufen und springen.“Christine Dietzel deutet auf den Ring aus Schieferplatten von Richard Long: „Ich überlege für mich, ob sowas nicht auch was für unseren Garten wäre.“Sie komme schließlich aus einem kreativen Beruf, 20 Jahre habe sie als Frisörin gearbeitet.

So kann sie auch gut verstehen, daß manche Besucher in ihrer Euphorie einfach mal was anfassen müssen, die Haut des superrealistischen „Will work for food“-Mannes von Duane Hanson etwa – der steht mittlerweile auf einem Sockel.

Was das mit den aufgestapelten Dosen eigentlich soll, diese „1000 toten Schweizer“von Christian Boltanski? Nun, meint Christine Dietzel, nachdem sie ausdrücklich darauf hingewiesen hat, daß sie nicht zum wissenschaftlichen Personal gehöre: „Das ist eben das, was von einem Menschen übrigbleibt, Andenken, die in eine Kiste passen.“

Dörte Zbikowski bekommt leuchtende Augen, wenn sie von diesem Interesse einer Aufsicht erfährt. „Mein Ziel ist es ja, den Leuten Mut zu machen, sich selber den Werken zu nähern. Und eine gute Beschreibung ist schon die Interpretation.“Dörte Zbikowski macht Führungen. Während alle BesucherInnen vom Lichthof fasziniert sind, gehen die Meinungen über Ruthenbecks Sandhaufen, Baselitz' Kopf-unter-Figuren und natürlich Naumanns Schreihals weit auseinander.

Die wissenschaftliche Assistentin müht sich redlich, den Besuchern zu erläutern, daß der unerträgliche Schreihals genau das sein soll, was er ist: unerträglich. Die Lautstärke regelt übrigens jeden Morgen Christine Dietzel: „Der soll ja Aggression auslösen.“Ganz so laut wie bei der Eröffnung der Galerie muß „Anthro/Socio“allerdings nicht mehr sein: Es kommen nicht mehr diese lärmschluckenden Besuchermassen wie zu Anfang.