Alles Mutter oder was?

■ Der Griff in die griechische Mythentüte: Jürgen Manthey auf der Suche nach dem Ursprung des Erzählers und einem Schlüssel zum Verständnis der Weltliteratur

Manchmal gefällt es den notorisch dünnhäutigen deutschen Dichtern, anläßlich einer Schreib- oder Denkhemmung durch die Schießscharten ihrer in der Toscana, am Müggelsee oder der Uckermark gelegenen Elfenbeintürme einen melancholischen Blick auf die Welt zu werfen. Wenn sie dann befinden, daß es sich bei dieser Welt, so wie sie ist, um einen zum Himmel stinkenden Saustall handelt, führt das nicht selten zu von heftigem Juckreiz begleiteten allergischen Reaktionen oder zum Griff in die griechische Mythentüte, die allerlei selbstgefertigte Rezepttinkturen und probate Hausmittel enthält.

Weil in den Mythos jeder hineinlesen darf, was er will, stimmen so unterschiedliche politische Temperamente wie Christa Wolf („Kassandra“, „Medea“) und Botho Strauß („Ithaka“) in der Diagnose der gesellschaftlichen Verhältnisse völlig überein, auch wenn sie in der Therapie getrennte Wege gehen.

Christa Wolf hält die Beseitigung des männlichen Teils der Menschheit für ein adäquates Verfahren zur Trockenlegung des Sündenpfuhls, Botho Strauß sucht sein Heil hingegen im umgekehrten Modus: in der rabiaten Wiederermächtigung des Männlichen. Gegen seinen Odysseus, der die verkommene, um seine Frau Penelope buhlende Bande von Hausbesetzern mit Stumpf und Stiel ausrottet, nimmt sich der von Arnold Schwarzenegger auf die Leinwand gewuchtete „Terminator“ geradezu aus wie ein zurückgebliebener Chorknabe.

Während die zitierten Autoren in die Rolle des Praeceptor Germaniae schlüpfen, um uns, die lethargischen Passagiere des vor sich hin dümpelnden Butterkreuzers Deutschland IV, zu feministischer Ein- oder normativer Umkehr zu bewegen, geht es dem Essener Literaturwissenschaftler Jürgen Manthey in seiner Untersuchung „Die Unsterblichkeit Achills – Vom Ursprung des Erzählens“ um die Beantwortung einer vergleichsweise bescheidenen Frage: Warum begeistern sich die Exponenten der Weltliteratur von Boccacio über Goethe bis zu Paul Auster, durch die Bank Menschen, die den Krieg aufgrund der Störanfälligkeit ihres Gewerbes eigentlich fürchten müßten wie der Teufel das Weihwasser, ausgerechnet für Achill, den Prototypen des antizivilisatorischen Zerstörers?

Um diese Frage zu beantworten, scheut der Essener Germanistikprofessor Jürgen Manthey keine hermeneutischen Mühen und Kosten. Unter Hinzuziehung diverser tiefenpsychologischer Schulen (Freud, Klein, Lacan, Winicott) stellt er die unbewußten Quellen der „verbitterten Ergrimmtheit“, mit der Achill zwölf Städte dem Erdboden gleichmacht und als dreizehnte wird Troja schleifen und ausbluten lassen, in den Mittelpunkt seiner Textexegese. Während in Homers „Ilias“ die Weigerung Agamemnons, seinem Gefolgsmann die versprochene Kriegsbeute in Gestalt der Sklavin Briseis zu überlassen, den Amoklauf Achills in Gang setzt, macht Manthey die Haßliebe, die den zum frühen Tod verurteilten Helden an seine göttliche Mutter Thetis fesselt, für den Ausbruch des Blutrauschs verantwortlich. Der zum mütterlichen Selbstobjekt degradierte Auftragstäter Achill muß die Welt in Schutt und Asche legen, weil sie von Männern regiert wird, die die Trennung von der gespenstischen, mit infantilen Allmachtsphantasien durchsetzten Obhutssphäre ihrer Gebärerinnen vollzogen und mit dem väterlichen Gesetz und der aus ihm erwachsenen symbolischen Ordnung ihren Frieden gemacht haben.

Dieser Befund, den Camille Paglia bereits vor sieben Jahren in ihrem Buch „Die Masken der Sexualität“ wesentlich lakonischer und präziser formulierte („Die Illusion der Dominanz des Mannes wird von Frauen genährt, die ihre Geschöpfe zum Spielen schicken“), treibt Jürgen Manthey in einem wahren Furor interpretandi, der den Vergleich mit der berserkerhaften Wut des frühgestörten natural born Killers Achill nicht scheuen muß.

Mantheys Bemühen, in 25 Kapiteln und Monographien die singuläre Erscheinung des archaischen Duo infernale Thetis/Achill in einen Generalschlüssel zum Verständnis der Weltliteratur zu verwandeln, hinterläßt einen zwiespältigen Eindruck. Vielfach variiert er die These, daß die inzestuös grundierte Gestaltungsmacht der Autoren, die ihn als Leser beeindrucken, auf einem unbewußten Pakt der Dichter mit ihren Müttern beruht, denen sie mit Hilfe der Schrift gleichzeitig den Hof machen und zu entrinnen hoffen.

Dort, wo es Manthey gelingt, sich von den selbst auferlegten Beweiszwängen zu lösen und zwischen Werk und autobiographischem Material eine plausible Verbindung herzustellen, kann man ihm mühelos folgen. Etwa in die Kindheitsphantasien Thomas Manns, der eines Morgens unter den Augen seiner künstlerisch ambitionierten Mutter mit dem Entschluß erwacht, fortan ein Prinz namens Karl zu sein, und die Rolle des Erwählten unter diskreten Formen und Masken ein Leben lang kultiviert.

Das gilt auch für Vladimir Nabokovs „Sprich, Erinnerung, sprich“. Der Text, in dem die wunderschöne, mit „Taubenblutrubin- und Diamantring“ geschmückte Mutter über den ersten lyrischen Gehversuchen ihres angebeteten Sohnes in Tränen ausbricht, bietet zahllose Belege für die Existenz des „hypertrophen Bewußtseins“ einer muttergestützten Kindheit. Der Vater als klassischer und wirklicher Dritter tritt bloß als lästiger Schatten in Erscheinung.

Leider kann Jürgen Manthey nicht der Versuchung widerstehen, auch die Autoren ins Prokustesbett rigider psychoanalytischer Deutungsmuster zu zwingen, die sich auf diesem Möbelstück seltsam deplaziert ausnehmen. Dort hockt Hartmann von Aue neben Giovanni Boccacio und Paul Auster, und sie starren gemeinsam in den Mond über Manhattan, gedenken ihrer vielgeliebten Mütterlein und wundern sich einmal mehr über die deutschen Dichter und Denker.

Wo diese Spezies hingrübelt, blüht bekanntlich die Erkenntnis oder wächst über Nacht kein Gras mehr. Siehe oben und weiter im Text... Günter Franzen

Jürgen Manthey: „Die Unsterblichkeit Achills – Vom Ursprung des Erzählens“. Hanser Verlag, München 1997, 470 Seiten, 58DM