Grundgesetz schützt Muezzin-Ruf

■ Gutachten der Ausländerbeauftragten Schmalz-Jacobsen: Kirchengeläut und islamischer Gebetruf rechtlich gleich

Berlin (taz) – Für die einen ist es schlicht Lärmbelästigung, für andere Symbol ihres Glaubens – der Ruf des Muezzins. Erschallt der islamische Gebetsruf vom Moscheenturm ins Umland, sorgt er in deutschen Städten immer wieder für Auseinandersetzung.

Ein Rechtsgutachten, das im Auftrag der Ausländerbeauftragten der Bundesregierung erstellt wurde, gibt jetzt eine klare Linie vor. Danach sind christliches Glockengeläut und islamischer Gebetsruf per Lautsprecher gleich zu behandeln.

Rechtliche Orientierung bietet Artikel 4 des Grundgesetzes, in dem die Religionsfreiheit festgelegt ist. In diesem Sinne sei der Gebetsruf eine kultische Handlung, so das Gutachten. Ebenso wie Kirchenglocken lade er Gläubige zu einer religiösen Veranstaltung ein.

Das Gutachten weist darauf hin, daß das Grundrecht auf Religionsfreiheit Einschränkung findet, wenn es mit anderen in der Verfassung verankerten Rechten kollidiert – etwa dem Recht auf körperliche Unversehrtheit sowie auf die Nutzung von Wohnung und Garten. Demnach kann eine Lärmschutzanordnung dafür sorgen, daß Lautstärke, Dauer und Häufigkeit des Gebetsrufs beschränkt werden – ganz untersagt werden kann er nicht.

Die Proteste gegen den Ruf des Muezzins kommen aus verschiedenen Ecken. Christliche Fundamentalisten wollen keine Konkurrenz im akustischen Religionsaufruf, und überzeugte Atheisten scheuen lautstarke Glaubensbekundungen von allen Seiten. Anwohner von Moscheen plädieren auf ihre Bürgersruh oder stützen sich auf die diffuse Befürchtung, daß es zu wachsendem islamischem Einfluß in Deutschland kommen könnte. Bei Streitigkeiten will die Ausländerbeauftragte der Bundesregierung, Cornelia Schmalz-Jacobsen (FDP), juristische Verfahren vermeiden. Statt dessen sollten die Betroffenen vor Ort Kompromisse finden.

Das Zentralinstitut Islam-Archiv Deutschland begrüßte das Bonner Gutachten. „Es setzt ein deutliches Zeichen“, so Institutsdirektor Salim Abdullah zur taz. Ihm fehle jedoch eine differenzierte Darstellung des islamischen Standpunkts zum Gebetsruf. Abdullah hat schon oft bei Gesprächen mit muslimischen Gemeindemitgliedern, Anwohnern und Behörden vermittelt. Siegen, Hamm, Ratingen und Dortmund sind nur einige Städte, in denen der Gebetsruf zum Teil schon seit Jahren praktiziert wird.

Den Lautsprecher nutzen dabei jedoch nur wenige Moscheen. Sei es, um Anwohnerklagen zu vermeiden, sei es, weil sie das technische Hilfsmittel selbst ablehnen. So empfiehlt das islamische Zentralinstitut einen Kompromiß. Der Gebetsruf sollte nur von einer menschlichen Stimme gerufen werden, heißt es in einem Gutachten, das das Institut Anfang des Jahres erstellt hat. Es entspräche viel mehr der ursprünglichen Intention der religiösen Handlung, wenn die menschliche Stimme nicht durch Hilfsmittel verfremdet werde.

Salim Abdullah: „Dann kommen die deutschen Behörden auch nicht in die Verlegenheit, den Gebetsruf als Lärmimmission verbieten zu wollen.“ Annette Kanis