New Yorks Kriminalitätsrate ist seit Jahren rückläufig. Das hat womöglich nicht nur mit verstärkter Polizeipräsenz auf den Straßen zu tun. Seit 1992 patrouillieren in den Wohngebieten der US-Metropole auch die Nachbarn Aus New York Peter Tautfest

Verbrecherjagd nach Feierabend

„Rosedale 2 an Rosedale Basis: Alles in Ordnung?“ – „Rosedale Basis an Rosedale 2: vier Wagen unterwegs, alles o.k., aber MG ist nicht abgeholt worden.“ – „Roger. Ich fahre zu MG!“

Am Steuer von „Rosedale 2“ hockt Keith Auerbach, ein gewichtiger, um nicht zu sagen übergewichtiger Mann. Hinter ihm sitzt seine Frau. Sie hat sich das Bein gebrochen, aber mit dem Gehgips kann sie sich mit einiger Mühe ins Auto zwängen. MG ist die 81jährige Marge Grassow, dreimal die Woche fährt die alte Dame mit auf Patrouille. So kommt sie raus und unter Leute.

Keith hat die orangeroten Aufkleber mit dem Schriftzug „Rosedale Neighborhood Patrol“ an den Wagentüren und die gelbe Blinkleuchte auf dem Dach befestigt. Die Lampe wirft pulsierende Lichtblitze auf die langsam vorbeigleitenden dunklen Bürgersteige und vereinzelte Passanten. 125 Dollar (zirka 200 Mark) hat ihn seine Ausrüstung gekostet – lieber hätte er eine Funkanlage, mit der er direkt zum Polizeidispatcher durchkäme. Aber die kostet 1.100 Dollar. Bis er die Spendengelder dafür zusammen hat, muß er sich an „Rosedale Basis“ halten, womit Auerbach Junior gemeint ist, der zu Hause sitzt und sofort die Polizei anruft, wenn eine der vier Besatzungen etwas meldet.

Rosedale gehört zu Queens, und Queens ist eine der fünf Teilstädte New Yorks. Rosedale hat 40.000 Einwohner, 8.000 Häuser, acht Kirchen, vier Schulen, zwei Geldautomaten und eine Bahnstation der Long Island Railroad mit zwei Ausgängen. Die Bevölkerung ist zu 60 Prozent schwarz, 30 Prozent weiß und 10 Prozent latino oder asiatisch – Kategorien, die dem Völkergemisch von Qeens nicht gerecht werden. Gegen dessen Vielfalt nimmt sich die Wagenbesatzung von „Rosedale 2“ fast homogen aus: Keith Auerbach ist Jude polnischer Herkunft, seine Frau Fanny ist schwarz, Marge Grassow ist weiß und angelsächsisch. In Rosedale geschehen monatlich fünf Raubüberfälle, 50 Einbrüche und 60 Autodiebstähle.

Auf dem von Unkraut überwucherten, unbeleuchteten Parkplatz an der Bahnstation treffen sich zwei Autos mit ihren gelben Blinkleuchten. Keith Auerbach und der andere Fahrer steigen aus, strecken sich, warten auf den Zug. Dieser Platz ließe sich herrichten, am besten durch einen beleuchteten Basketballplatz. Dafür fehlt aber das Geld. Durch den Tunnel kommen drei Fahrgäste und verschwinden in schlecht beleuchtete Seitenstraßen. Auerbach begrüßt sie mit lautem „Hallo Nachbar“. Anfangs hätten die Leute komisch geguckt, sagt er, inzwischen grüßten manche zurück.

Am Anfang ist Keith Auerbach von Tür zu Tür gegangen und hat für die Patrouille geworben. Die beste Wirkung aber erzielt man mit Präsenz. Sehen und gesehen werden. Darum, und natürlich auch, weil's Spaß machen soll, treffen sich die Patrol-Mitglieder allabendlich in ihrer Stammkneipe, dem Diner USA, wo sie teils aufgeregt von einem Schwarm schwarzer Mädchen befragt, teils nicht weiter beachtet werden.

Auerbach hat sich ein ausgeklügeltes Belohnungssystem ausgedacht. Für zehn Fahrten gibt es eine Anstecknadel, nach je weiteren zehn ein T-Shirt, eine Basketballmütze, eine Jacke – alles mit dem Aufdruck „Rosedale Neighborhood Patrol“. Auerbach führt Buch. Einsatzpläne aber hätten sich nicht bewährt, sagt er, das schrecke die Leute nur ab. 80 bis 90 Telefongespräche führt er die Woche, um die Streifen zusammenzubekommen. An vier Abenden in der Woche sind sie von 20 Uhr bis Mitternacht unterwegs – wohl wissend, daß die Einbrüche tagsüber und die Autodiebstähle nach Mitternacht geschehen. Polizei? Die sollte hier eigentlich Streife fahren, erklärt Auerbach, und neuerdings auch zu Fuß unterwegs sein. Oft ruft er morgens im Revier an und fragt, wo die Streifen in der vergangenen Nacht waren.

Hat sich an der Situation in den Neighborhoods seit Beginn der Bürgerstreifen im Jahre 1992 etwas geändert? Wie zählt man verhinderte Verbrechen? Nach Meinung von Andrew Karmen, Wissenschaftler an der John Jay School of Criminal Justice in Manhattan, läßt sich Kriminalität anhand zweier Zahlen quantifizieren. In New York werden alle Toten dem amtlichen Medical Examiner vorgeführt, Autodiebstähle werden der Versicherung und der Polizei gemeldet. An ihnen gemessen, erklärt Andrew Karmen, sei die Verbrechensrate in New York tatsächlich gesunken. Im bisher blutigsten Jahr der jüngeren Stadtgeschichte, 1992, wurden 2.262 Menschen umgebracht. 1993 waren es 1.951, 1995 noch 1.180, 1996 sank die Zahl unter tausend. 1997 liegt sie bis jetzt bei 700. Das ist der deutlichste Rückgang der Mordrate in der Geschichte der USA und zugleich eine Erklärung dafür, warum die Verbrechensrate im ganzen Land sinkt; zehn Prozent aller Morde in den USA geschehen in New York City.

Dem Kriminologen Andrew Karmen zufolge haben die ständigen Festnahmen wegen Bagatelldelikten, wie etwa öffentliches Urinieren oder Schwarzfahren, dazu geführt, daß viele Jugendliche immerhin jetzt ihre Waffen zu Hause lassen – spontane Auseinandersetzungen werden wieder mit Fäusten statt mit der Knarre ausgetragen. Außerdem geht auch das Verbrechen mit der Mode. Ein Crack- Junkie gilt heute als das letzte, und Gangs sind nicht mehr hip. Eine Sache jedoch bereitet dem Kriminologen Sorgen: Während die Colleges heute nicht vollzukriegen sind, weil es an Jugendlichen der Altersgruppe 18 bis 24 fehlt, konnte die Stadt New York im vergangenen Jahr an die 90.000 Kinder nicht einschulen. Wenn in fünf Jahren aus den Kindern Jugendliche geworden sind, könnte die Verbrechensrate so dramatisch ansteigen, wie sie heute fällt.

Nicht alle Bürgerpatrouillen arbeiten übrigens nach dem gleichen Prinzip wie Keith Auerbachs „Rosedale Neighborhood Patrol“. Für Bob Humber, Wächter in einem Heim für Taubstumme und auch so einer wie Keith Auerbach, ist es mit dem bloßen Patrouillieren im Stadtteil nicht getan. Als vor 20 Jahren auf dem Basketballfeld im Sarah D. Roosevelt Park in Manhattan ein Jugendlicher erschossen wurde, reichte es. Bob Humber ergriff die Initiative. Er mußte das Rad dazu nicht neu erfinden. In der „Anti Crime Unit“ des „Citizen's Committee of New York“ fand er Konzepte und Kontakte, Berater und Leute, die Geldquellen anzuzapfen wußten. Angefangen hat Humber mit unkonventionellen Methoden, die seiner Naivität entsprangen. Nachts strahlte er die Crack-Dealer mit einer Taschenlampe an. Wenn sie ihn vertreiben wollten, wies er auf die Dächer und behauptete, dort stünden Leute mit Videokameras. Seine ersten Verbündeten waren die Prostituierten, dann kamen die Nachbarn mit Taschenlampen. Die Crack-Dealer schlugen ihm einen Deal vor. Humber zog ein Joint-venture mit der Polizei vor.

Bob Humber macht in seiner Freizeit, oft nur von seinem Sohn begleitet – Batman & Robin, wie dieser sagt –, Runden durch den Sarah D. Roosevelt Park. Ihn scheint hier jeder zu kennen. Einmal hat er gehört, wie jemand hinter ihm sagte: Da geht der, dem der Park gehört. Zu Humbers Ideen gehört im übrigen auch der „M'sinda Kulunga Garden at the Edge of the World“, ein ehemaliger Friedhof für Schwarze aus den frühen Zeiten New Yorks. Hinter einem Zaun wachsen heute Salbei, Tomaten, Rosmarin und Blumen. Zugang haben Mitglieder des Gartenclubs und Leute, die zu einem besonderen Anlaß einen Picknickplatz suchen. Am östlichen Ende des Parks fand durch Absprache mit den Kaufleuten aus dem benachbarten Chinatown ein überquellender Straßenmarkt zusätzlichen Raum. Hier ist bis tief in die Nacht etwas los. Auf dem Basketballplatz werfen sich an diesem Tag schwarze Jugendliche und eine Chinesin im Bikini-Oberteil und Tarnhosen den Ball zu.

So manche Nachbarschaftsorganisation arbeitet nach dem Blockwartprinzip als Spitzel. Einen solchen Spitzel brauchen gerade die „Mid Bronx Desperados“, eine Nachbarschaftsorganisation, die den Stadtteil an der 7. Avenue und der 174. Straße in eine Oase aus Parks und Gärten inmitten renovierter Häuser verwandelt hat. Denn Nummer 999 auf der 174. Straße macht Ärger. Die Desperados haben Ed Powell aus Flatbush kommen lassen. Mit seinem dünnen Bärtchen und rundem Käppi scheint dieser Mann eher in die Kasbah als in die Bronx zu passen. In New Yorks Nachbarschaftsorganisationen ist er ein gefragter Mann – sein Beeper piepst ständig. Er war es, der vor 20 Jahren mit neun muslimischen Familien die rein muslimische „Umma Patrol“ gegründet hat. Umma ist arabisch und heißt Gemeinschaft. Nachts zogen sie in Tarnanzügen und mit langen Messern durch die Straßen. Das Räuberzivil und die Messer legten sie bald ebenso ab wie ihre Maxime, mit der Polizei nichts zu haben zu wollen. Als die Polizei ihre Präsenz in Flatbush verstärken wollte und die Beamten sogar anwies, auch in die Treppenhäuser zu gehen, nahm Umma die verschreckten Beamten unter ihre Fittiche und stieg mit ihnen treppauf, treppab. Im Gegenzug hat die Polizei die Umma-Leute ausgebildet. Ed Powell hat heute eine Consulting-Firma für Verbrechensvorbeugung.

Im Büro der Desperados in der Bryant Avenue sitzt Ed Powell Wachtmeister Browner gegenüber. Ed war mit Erhebungsbögen in Haus 999 unterwegs. An den Wohnungstüren hat er Klagen und Wünsche der Mieter eingeholt. Er ahnt, in welchem Stock die Crack- Dealer sitzen – ihnen gehören der Pitbull und der Taubenschlag auf dem Dach; die Brieftauben werden zum Drogentransport eingesetzt –, aber Ed Powell möchte noch eine Weile beobachten.

Am Abend kann er berichten, daß zwei Weiße vor Nummer 999 herumlungern. Ob das nicht lebensgefährlich sei, zunächst mit Fragebögen und am anderen Tag als Spion aufzukreuzen? Das sei eine seiner Stärken, antwortet Powell, ihn kenne hier keiner, und wiedererkennen tue ihn erst recht niemand. Eine halbe Stunde nach dem Gespräch mit Officer Browner sieht er tatsächlich wie ein Crack-Junkie aus. Und kurze Zeit später ist er verschunden.