Rabin und Iris und ich

Heimatkino wird eigentlich nicht so gern gesehen, dafür um so mehr Verhoevens Überlebenssaga „Mutters Courage“. Ein Bericht vom israelischen Filmfestival in Jerusalem  ■ Von Ralf Dittrich

Israelische Regisseure werden im Ausland gern nach der politischen Bedeutung ihrer Arbeiten gefragt. Als Antwort haben sie zunehmend auf ihrem Recht bestanden, „normale Filme“ zu drehen, vielleicht über Liebe, den letzten Sommer in der Stadt oder einen Dinosaurierpark. Aber dazu kommt es dann doch nur selten; schneller zur Hand sind die immergleichen Zerreißproben der israelischen Gesellschaft: der Dauerkriegs- oder Halbkriegszustand mit den Palästinensern, ethnische Differenzen unter den Israelis, die nur zu oft mit einem sozialen Gefälle korrespondieren, und natürlich die biographische Last der europäischen Juden, die aus der Shoa nach Israel gekommen sind.

So hat die Jury des diesjährigen Jerusalemer Filmfestivals fast mit einer gewissen Erleichterung den Preis für den besten israelischen Film an eine Komödie vergeben. „Afula Express“ ist eine Art Burleske, deren Titel Ortsansässigen schon verrät, woher sie ihren Witz bezieht: „Afula“, der Name einer Kleinstadt im Norden Israels, ist ein Synonym für Provinz und alles, was damit an Naivität, sympathischer Ungehobeltheit und Aufsteigerbegehren verbunden ist. Eine dicke, patente Frau und ihr verträumter Mann ziehen in die Südstadt von Tel-Aviv, in die heruntergekommenen Hinterhöfe, in denen die andere Hälfte haust, um dort ihr Glück zu machen. Er will Zauberer werden. Es kommt zu den genretypischen Verwicklungen und Komplikationen, deren Auflösung sich auf dem Land abspielen muß.

Für kaum einen der Besucher war es ein Thema, daß im ganzen Festival überhaupt nur vier israelische Spielfilmproduktionen gezeigt wurden. Die Regierung Netanjahu, mit ihrer politisch und ästhetisch sehr eingeschränkten Vorstellung von fördernswerter Kultur, kann mit dem krisenfixierten israelischen Kino nicht viel anfangen und hat das Budget der Filmförderung empfindlich gekürzt. Eine Folge davon ist, daß sich die Zahl der eingereichten Filme um glatte fünfzig Prozent reduziert hat. In scheinbarer Unbekümmertheit bemühen sich die Festivalorganisatoren, die Krise kleinzureden, und bieten als Kompensation eine neue Wettbewerbssparte: die TV-Dramen.

Die machen ihrem Namen alle Ehre: der Verfall familiärer Bindungen, speziell in den Kreisen wie denen der sephardischen Juden, deren Lebenszusammenhänge eher traditionellen Vorgaben folgten; die Ratlosigkeit der Jugend, die mit der nationalen Erzählung nichts mehr anfangen kann („Florentin“ von Eytan Fox); oder die schon erwähnten ethnischen Differenzen. Yamin Messikas Film „Voice of Hope“ behandelt einen unauffällig verstrichenen Skandal der fünfziger Jahre: Damals wurden Kinder von sephardischen Einwanderern aus dem Jemen ihren Eltern weggenommen und – aus Sorge um die Qualität ihrer Erziehung, von der man die Zukunft Israels abhängig sah – aschkenasischen Familien zur Pflege gegeben. In „Voice of Hope“ kommt eine von ihnen als junge, inzwischen in Amerika lebende Frau zurück nach Israel, um ihren Wurzeln nachzuspüren.

Ein mit israelischem Budget hergestellter palästinensischer Film, „The Milky Way“, krankt zwar an dem Problem aller palästinensischen Filme – nach Jahren ohne nennenswerte Filmproduktion nun in jedem Film alles sagen zu wollen –, aber auf diese Weise gelingt ihm trotzdem eine interessante Konstellation: Zwar spielt der Film 1965 in einem Dorf in Galiläa, noch unter der israelischen Besatzung, aber die angesprochenen Konflikte weisen auf die heutigen unter der Selbstverwaltung voraus. Zwei Lager im Dorf bekämpfen einander: eine korrupte Schicht von Kollaborateuren um den Dorfältesten und eine Schicht von Intellektuellen, vor allem Lehrern, die zum Teil längere Aufenthalte in israelischen Gefängnissen hinter sich haben. Faszinierend ist dabei, wie sich spiegelverkehrt Strukturen des israelischen Kinos im arabischen reproduzieren: Die Israelis werden allesamt von Arabern gespielt (erst seit wenigen Jahren werden Araber im israelischen Film von Arabern gespielt); hier sprechen sie sogar untereinander Arabisch. Und wie im israelischen Kino ist auch hier der blinde Fleck das Kriegstrauma, an dem einer leidet, der wegen seines Wahns seit langem wie ein Aussätziger lebt.

Auch den Dokumentarfilm gibt es eigentlich nur noch als Videoproduktion. Der Fall des Mordechai Vanunu, der das Geheimnis der israelischen Atomwaffen preisgegeben hat und seit elf Jahren in Einzelhaft gehalten wird, von dem es seither keine Stimme und kein Bild mehr gibt, hat die Regisseure Nissim Mossek und Dani Verde in „I'm your spy“ zu einem Appell an das Gewissen nicht nur der israelischen Öffentlichkeit inspiriert.

Alle Filme bleiben brav in einer Standardlänge von einer Stunde. Die Jury stört sich nicht weiter daran. Nur Dan Katzirs Low-budget-Produktion „Out for Love ... Be Back Shortly“ fällt ästhetisch aus dem Fernsehrahmen. Katzir verknüpft in seiner Dokumentation der Monate vor und nach der Ermordung Jitzhak Rabins seine private Geschichte einer schwierigen Liebe auf durchaus überzeugende Weise mit den Geschicken Israels.

Mit einer Handkamera läuft er durch die Straßen Tel-Avivs, auf denen Gedenkveranstaltungen an Terroropfer stattfinden, die in Hate Parades gegen Rabin umschlagen. Er läßt die Schlüsselereignisse seines Lebens Revue passieren: die Erschießung des Großvaters durch Terrorristen 1972, seinen Dienst als Fallschirmjäger während der Intifada zwischen brennenden Autoreifen und Gummigeschossen. Als er schließlich mit Iris, der zukünftigen Soldatin, seinen privaten Frieden gefunden hat, dringt die Nachricht von der Ermordung des Premierministers über die Lautsprecher.

Aber die Israelis verstehen eigentlich nicht so recht, wieso man ihr Festival besucht, um israelische Filme zu sehen. Es war 1984 nämlich eher mit der Absicht gegründet worden, dem israelischen Publikum Anschluß ans internationale Kino zu verschaffen. So fand Michael Verhoevens Film „Mutters Courage“ über die Geschichte der Mutter George Taboris bei Publikum und Kritik, ganz anders als in Deutschland, überwältigenden Beifall.

Ulrike Ottinger hingegen, die in zwei Vorführungen ihre brillante vierstündige Dokumentation „Exil in Shanghai“ vorstellte, saß schließlich mit nur noch zwölf Zuschauern vor ihrem ursprünglich ausverkauften Auditorium. Viele ertrugen die Diskrepanzen zur eigenen Lebensgeschichte nicht, vielen war es zuviel gegenwärtiges Shanghai, und vielen war es einfach zu lang.