Auf der Suche nach der heißen Pfütze

Hamburg unterirdisch, taz-Serie, Teil 3: Unter dem Pflaster, da liegt antiker Strand. Wenn er heiß und voller Wasser ist, könnte er Wohnungen beheizen. Die taz hat nachgebohrt  ■ Von Achim Fischer

„Sehen Sie was?“fragt Jutta Rusbült ruhig und freundlich. Hamburgs Vergangenheit liegt unter dem Mikroskop. „Ja, sieht aus wie Kieselsteine.“Die Geologin ringt um Fassung: „Das sind keine Kieselsteine. Das sind Muschelkrebse. Und das andere, das Längliche, das sind die Gehäuse von Einzellern.“Tschuldigung. War nicht so gemeint.

Die Tierchen unter dem Mikroskop kommen aus Hamburgs Untergrund. Genauer: Aus 2680 Metern Tiefe unter den Vier- und Marschlanden. Zwei ostdeutsche Unternehmen bohren dort nach einer Energiequelle, die sie in 3100 Meter Tiefe vermuten. Auftraggeber sind die Hamburger Umweltbehörde und die Hamburgischen Electricitäts-Werke (HEW). Sie hoffen, dort unten auf einen Sandstein zu treffen, der sich wie ein Schwamm mit heißem Wasser vollgesogen hat. Der Weg dorthin ist eine Reise in die Vergangenheit.

Damals, vor langer, langer Zeit, noch vor der Amtszeit Henning Voscheraus, das Rathaus stand noch nicht, nicht einmal die SPD war erfunden, vor langer Zeit also war, wo heute Norddeutschland ist, ein Meer. „Wie das an jedem guten Strand üblich ist, lagerte sich hier Sand ab“, erklärt Martin Zarth vom Geologischen Landesamt. Sandkörner sind zerbröselte Felsen, die über Bäche und Flüsse aus den Gebirgen ins Meer gespült wurden. Vor 200 Millionen Jahren bröselte es mächtig in den Bergen. Und so wuchs die Sandschicht am Meeresboden Meter um Meter.

Als die Strömung in dem Gewässer nachließ, konnten sich auch leichtere Schwebstoffe absetzen – winzige Steinpartikel sowie Tier- und Pflanzenreste. Sie lagerten sich als Tonschichten über dem Sandboden ab. 3100 Meter hoch schichteten sich die Sedimente in den vergangenen 200 Millionen Jahren über dem Sand auf. Und obendrauf wächst heute Feldsalat.

Je tiefer man heute in den Vier- und Marschlanden unter die Salatwurzeln bohrt, umso älter sind die Ablagerungen, ehemalige Meeresbewohner wie Krebse und Einzeller eingeschlossen – im wahren Sinne des Wortes.

„Jede Schicht hat ihr eigenes Leittierchen“, erklärt Jutta Rusbült. Zum Beispiel Gammacuthere ubiquita. Sieht aus wie ein – genau –, ist aber ein Muschelkrebs. Und kam beziehungsweise kommt typischerweise im Pliensbachium vor, dem unteren, um genau zu sein, einem Unterabschnitt des Lias, also des Jura. Wann das nun war? Hm, hm. Schwer zu sagen. Geologen rechnen in Zeitaltern, nicht in Jahren. „Na, so ungefähr vor 150 Millionen Jahre“, springt der Geologe Gerhard Lenz ein. Gefunden in 2690 Metern Tiefe. Fehlen also noch ungefähr 50 Millionen Jahre bis zum Sandstein.

Oder ungefähr vierhundert Meter. Rusbült und Lenz arbeiten für das Ingenieurbüro Geothermie Neubrandenburg, das die Bohrung leitet. Sie kontrollieren anhand der Leittierchen, wie weit es noch bis zu dem Sandstein ist. Kurz davor müssen die Profi-Bohrer ihre Taktik ändern: Sie dürfen kein Schmiermittel mehr in das Loch pumpen, sonst verstopfen sie damit den Sandstein – das Wasser würde nicht wie geplant aus dem porösen Stein in das Bohrloch strömen.

„Möge er dick, heiß und voller Wasser sein“, hat Umweltsenator Fritz Vahrenholt den Stein der Heißen schon mal beschworen. Der gewaltige Druck der kilometerdicken Sedimente hat den Sandstrand zum Sandstein zusammengepreßt. Das Meerwasser wurde eingedampft und zum Teil vom Gestein aufgesogen. Durch die Nähe zum Erdkern und durch radioaktive Zerfallsprozesse im Erdinneren ist das antike Wasser aufgeheizt – auf mindestens achtzig Grad, hoffen die Beteiligten.

Dann nämlich könnte man die heiße Riesenpfütze als Energiequelle nutzen: Durch das Bohrloch ließe sich das Wasser an die Oberfläche pumpen, und über einen Wärmetauscher könnten der Heiz- und Warmwasserkreislauf für mehrere tausend Wohnungen in der geplanten Siedlung Allermöhe III betrieben werden. Um Druckänderungen im Untergrund zu vermeiden, würde das Wasser anschließend wieder zurückgepumpt.

Erdwärme wurde in Deutschland bislang fast ausschließlich in der früheren DDR genutzt. Noch heute sitzen die meisten Spezialisten in den neuen Bundesländern, etwa bei den beiden Firmen aus Neubrandenburg und Mittenwalde.

Rund 100 Meter schaffen die Profi-Bohrer mit ihrer Apparatur am Tag. Ein schwerer Bohrkopf zermahlt den Untergrund, aus Düsen neben dem Bohrkopf schießt eine Schmierflüssigkeit mit 360 Stundenkilometern, reinigt den Kopf und drückt das zerbröselteErdreich am Bohrgestänge vorbei gen Tageslicht. Dort wabert die grau-braune Masse über Siebe, erst grobe, dann immer feiner, dazwischen durch Kanäle, Düsen. Zuletzt bleiben zwei Fraktionen übrig: Die Schmierflüssigkeit, die wieder in den Untergrund geht. Und Brösel. Hamburgs Vergangenheit.

Hamburg unterirdisch, Teil 4: Mitten im Freihafen – die fernwärmegesteuerte Tunnel-Sauna der HEW, Freitag, 1. August