Die wahre Angelika

Nun schon zum zehntenmal: Jochens Lieblingsfilme open air und live im Freilichtkino Hasenheide  ■ Von Detlef Kuhlbrodt

Im Sommer 1988 hatten die Aktivistinnen von „Jochen Enterprises“ zum erstenmal ihre kleinen, entrechteten, selbst vom Hamburger No-budget-Filmfest oft abgelehnten Filme einem größeren Publikum in der Hasenheide gezeigt. Damals war das alles sehr abgefahren, ungewöhnlich und schön.

Seitdem ist viel passiert: Die DDR ging kaputt, die CDU wurde zur Techno-Partei, die Männchenfilmerin Dagie Brundert machte einen HdK-Meisterschüler-Abschluß, und die Super-8-Kurzfilminitiative „FBI“ trat mit allmonatlichen Filmprogrammen auf den Plan. Was damals als „underground“ des Undergrounds gefeiert oder als Kuriosum mißverstanden wurde, kann man sich heute auf arte reintun.

Am 1. Juli beispielsweise zeigte der Kulturkanal Torsten Alischs „Angelika“ nebst der Fortsetzung „The Return of Angelika“. Die bestürzenden Zusammenschnitte diverser privater Super-8-Filme, die Jochen-Mitbegründer Torsten Alisch auf dem Flohmarkt gefunden hatte, waren beim Jochen- Filmfest 1993 erstmals einer breiteren Öffentlichkeit vorgestellt worden. Zwei Kolleginnen des Kulturvereins „Botschaft e.V.“ ließen sich von den trostlos-interessanten Angelika-Schnipseln zu einem Kunst-Groschenroman anregen, in dem Liebe und Schmerz ganz großgeschrieben wurden. Wie Alisch waren sie davon ausgegangen, daß die korpulente Heldin Angelika längst verschollen beziehungsweise verstorben sei.

Als nun arte Interesse an dem Film zeigte, mußte Alisch die wahre Angelika finden. Sie hatte ja die Rechte an ihren Bildern, auch wenn sie die vermeintlich wertlosen Filme lieblos abgestoßen hatte. Nach langwierigen Nachforschungen fand Alisch die proletarische Heldin, die völlig vereinsamt lebt und niemanden mehr sieht außer ihrer Mutter. Vielen Kreuzbergern geht's übrigens ähnlich – sie wohnen noch bis fünfzig, wie mein Nachbar, bei Muttern.

Angelika freute sich sehr über das Geld, das sie bekam, und ihre Mutter bot Alisch dann auch gleich noch ein paar dufte Familienstreifen an, die zu kaufen der Filmemacher und Comicladenbetreiber („Grober Unfug“) allerdings ablehnte. Dies sei nur berichtet, um Gerüchten entgegenzutreten, Alisch sei inzwischen steinreich geworden und sozusagen der Ralf Regitz des No-budget-Films. Das Jochen-Filmfest ist auch keine Love Parade, sondern immer noch das große Familientreffen aller Freunde kleiner Filme, die die Veranstalter unter anderem beim „seltsamsten Open-air-Filmfest Deutschlands“ in Weiterstadt oder neulich beim Hamburger Kurzfilmfestival entdeckten, bei dem es übrigens auch ein Super-8-Projektor-Rennen gab.

19 schöne Filme werden heute abend in der Hasenheide zu sehen sein: Der schwedische 35-mm- Streifen „Pin-Up“ entführt einen acht Minuten lang ins Land frühpubertärer Begierden; die Helden erinnern ein wenig an „die kleinen Strolche“. In einem „Stefan Mökkel Special“ gibt es drei Filme aus der S-8-„Hobbywood-Reihe“ des schwergewichtigen Mathematiklehrers aus Braunschweig zu bestaunen. „Free Rolly“ variiert dabei auf charmant naheliegende Weise das „Free Willy“-Thema mit einem Rollmops, um den es dann geschehen ist, wenn er am Ende zwischen die zerstörerischen Kiefer des sadistisch daherschauenden Filmemachers gerät. In dem ziemlich lustigen 16-mm-Film „Schönen Guten Tag“ von Corinna Schmitt, der letztes Jahr beim „European Media Art Festival“ in Osnabrück viele erfreute Zuschauer fand, geht es um einen Anrufbeantworter, auf dem man die seltsam normalen, redundanten Mitteilungen eines proletarischen Hausverwalters an seine Putzfrau hören kann. Die Sprache verzweifelt daran, das zu sagen, was sie eigentlich sagen möchte; Zeugen Jehovas, Kloschlüssel und andere Dinge spielen auch eine Rolle, und am Ende heißt es immer verzweifelter: „Es wäre schön, wenn Sie dieses Gespräch bestätigen könnten.“

In einem der vielen neuen kleinen Animationsfilme von Dagie Brundert, Titel: „Mox“, geht es mädchenhaft bunt, entschlossen knetgummiverliebt und stets verwandlungsfreudig zu, nun ja, „Jesus“, der einst „in seinem holographischen Zeitreiseboot auf den Planeten Mox flog, um sich dort von einer Erkältung zu erholen, die er sich im Himalaja zugezogen hatte, nachdem er sich von seinem übermächtigen Vater losgesagt hatte. Er vergaß dort seine Wärmflasche“ usw.

Doch am besten gefällt mir eigentlich die 20minütige Tagebuchchronik „Aber den Sinn des Lebens habe ich immer noch nicht gefunden“ von Jochen Peters. Der fragile Film besteht aus einer Aneinanderreihung diverser dreiminütiger Reflexionen über Ich, Körper und Welt, die der Nürnberger jedes Jahr zu machen pflegt. Mal sitzt er dabei auf dem Sofa, mal nackt in der Badewanne (wobei die Kamera dann oft streikt). In nie aufgesetzt wirkender, komischer Nachdenklichkeit erzählt er unter anderem davon, daß er sich „das Pinkeln im Sitzen“ mal abgewöhnen wollte, „aber dann würde ich meine Beine vermissen, auf die ich beim Sitzen immer starre“.

Im Beiprogramm des Filmfestes unterhalten die Easy-Listenig-Pioniere vom „Hammond Inferno“. Wie jedes Jahr, so findet auch diesmal eine Filmstreifenbemalaktion statt, bei der die Zuschauer Filmstreifen bemalen können. Das Ergebnis flimmert dann am Ende eines angenehm relaxten Abends über die Leinwand. In den letzten Jahren zeichneten die Zuschauer meist ihre Initialen, komisch aussehende Geschlechtsteile oder auch Herzchen.

Heute, 21 Uhr, Kino Hasenheide