Im Boot mit Harry Belafonte

■ Liebeskummer kann so schön sein: Estudiantina Invasora im Tempodrom

Nichts bleibt, wie es ist: Möglichst schon am Mittwoch die „Heimatklänge“ zu besuchen galt bisher als aussichtsreichste Methode, den Massen zu entgehen, die an den Wochenenden ins Tempodrom strömen.

Doch dieses Jahr scheint diese Regel außer Kraft, sagen die Fahrradhalden vor dem Zelt und die Menschentrauben, die sich schon am ersten Konzertabend der Woche vor den Kassen einfinden. Vorbei flaniert es sich am üblichen Parcours aus Dosenbierhändlern und Klapptischen mit spanischen Taschenbüchern aus zweiter Hand oder Kissenbezügen in den kubanischen Nationalfarben. Auch drinnen hat man sich mit Begeisterung auf das diesjährige Thema eingelassen, offeriert kubanische Reis- und Bohnengerichte, Che- Poster sowie Mojitos, derweil immer mehr Konzertbesucher mit dicker Zigarre protzen. Kuba kommt mal wieder schwer in Mode.

Mit wechselnden Modekonjunkturen nichts an den Hüten haben hingegen Estudiantina Invasora, die in diesem Jahr ihr 70. (!!) Jubiläum feiern und dem alten Lied, dem Viejo Trova, die Treue halten. Acht Herren gruppieren sich da, einheitlich in Bundfaltenhosen und gedeckte Musterhemden gekleidet, und gleiten, ohne eine Miene zu verziehen, langsam mit romantischen Balladen in den milden Abend. Mit Klanghölzern und Rumbarasseln, Claves und Maracas genannt, geben zwei der singenden Senioren punktgenau den Rhythmus vor, auf dem die Trompete sehnsuchtsvolle Melodien ausbreitet, derweil die Jüngeren im Takt die Gitarren schrubben: nostalgischer Schmelz von der Sorte, bei deren Hören man sich wünscht, Liebeskummer zu haben. Noch während man im akustischen Korbstuhl versinkt, vermeint man in der Ferne, weit draußen am Horizont, Harry Belafonte und Ben E. King mit einem Wiener Schrammelorchester im Boot treiben zu sehen.

Bandleader Inaudis Paisan Mallet, vormals erster Trompeter am Symphonieorchester in Santiago und heute mit glänzendem Pensionärsstrohhütchen ausgestattet, hat das Geschehen routiniert im Griff: Fast unbemerkt flicht er einige deutsche Zeilen ein, die er von einem Blatt absingt und von denen nur so viel zu verstehen ist, daß von einem „Dich-Wiedersehen“ die Rede ist. Dann wieder stellt er sich, Hände in den Hosentaschen, prüfend wie ein Lehrer neben die Band und begutachtet die Darbietung seiner rüstigen Jungs, die allmählich das Tempo aufdrehen und den Laden in Schwung bringen.

1927 aus einer Studentengruppe hervorgegangen, von der einzig der 86jährige Roberto Napoles als Veteran am Kontrabaß die Dekaden überdauert hat, wirken die Trova-Traditionalisten aus Santiago wie ein sympathisches Relikt aus vergangenen Zeiten – Zeiten, in denen man Schirmmützen noch richtig herum trug. Merkwürdig vertraut muten die melancholischen Klänge der Langzeitstudenten an, wie jene verbeulten Cadillac-Oldtimer, die man auf der Karibikinsel noch allenthalben antrifft, oder mexikanische Kapellen in frühen Hollywood-Filmen.

Zum Schluß, als zwei Paare auf die Tempodrom-Bühne steigen und sich alsbald im Wiegeschritt drehen, rauscht auch das restliche Tempodrom im Takt mit, womit sich der Abgang der alten Herren zum Triumphzug gestaltet. Grinsend werfen sie die Arme hoch wie Bocciaspieler, denen ein besonders guter Wurf gelungen ist. Daniel Bax

Heute und morgen ab 21.30 Uhr, Sonntag ab 16 Uhr, Tempodrom