Echt altgriechisch

Der Mond spielt sie alle an die Wand: Grillparzers „Sappho“ beim Sommertheaterfest in Netzeband  ■ Von Michael Mans

Theaterferien! In der großen Stadt ist nichts mehr los. Das Theater geht in die Sommerfrische und zieht aufs Land. Daß Kultur ein Wirtschaftsfaktor ist, daß auch der Tourist gelockt und unterhalten werden will und daß es dabei mit dem abendlichen Orgelkonzert freitags nicht getan ist, das hat sich bis in die Mark Brandenburg herumgesprochen. Dort, im „Landschaftspark Oberes Temnitztal“, siebzig Kilometer nordwestlich von Berlin, zwischen Neuruppin und Wittstock, liegt ein Dorf mit einem kleinen, aber feinen sommerlichen Theaterfestival, das in diesem Jahr zum zweitenmal stattfindet – Netzeband.

Nach Netzeband kommt man von Berlin aus mit einem Zug, der eigentlich ein Bus ist; voll mit märkischer Jugend, die ihren Wochenendeinkauf in Berlin erledigt hat und nach Neuruppin zurückkehrt. Dort steigen sie aus und wir um in ein Züglein, das auf krummen Schienen von Dörflein zu Dörflein fährt. Netzeband ist aber nicht einmal ein Dörflein, sondern eigentlich bloß eine Straße mit Häusern rechts und links. Am Beginn der Häuserreihe erfreut ein Storchennest des Städters Blick, an ihrem Ende steht ein rosafarbenes klassizistisches Kirchlein. Sonst gibt es nichts, nicht mal die für taz-Reportagen aus brandenburgischen Dörfern eigentlich obligatorische Eisdiele, vor der jugendliche Skinheads lungern. Die Kirche gammelte seit 1965 ungenutzt vor sich hin, bis sie von einem Düsseldorfer Architekten entdeckt und restauriert wurde, der auch flugs einen Förderverein für die gesamte Region gründete, aus dem dann das Theaterfestival erwuchs.

Jetzt ist die Kirche das Theaterfoyer, und das Theater ist der dahinterliegende Gutspark. In langen Reihen auf einfachen Plastikstühlen sitzend, blickt man vom Kirchberg herab auf eine weite, hügelige Parklandschaft, die irgendwo hinten in einen kleinen Wald übergeht. Bestes Golfplatzgelände, sollte man meinen, aber nicht neureiche Rasensportler, sondern weißgewandete hellenische Jungfrauen strömen zwischen den Bäumen hervor und auf die Kirche zu. Franz Grillparzers „Sappho“ steht auf dem Spielplan, inszeniert vom Altenburger Schauspieldirektor Frank Matthus, dem künstlerischen Leiter des Festivals.

Sap-pho, lernte ich im Griechischunterricht, Sapp-fo! In Netzeband sagt man schlicht und ländlich-süffig: Saffo. Das erinnert mich an meine Kindergartenliebe Sophie, die auf gut westfälisch Soffie gerufen wurde, mit Betonung auf der ersten Silbe. Die westfälische Soffie teilte immer ihr Nutellabrot mit mir, die brandenburgisch-grillparzersche Saffo will gar nichts teilen, schon gar nicht ihren Liebsten mit der jungen Sklavin Melitta. Die beiden fliehen übers Meer, das man sich irgendwo im Wald vorzustellen hat, werden aber wieder eingefangen, und schließlich ist es Saffo, die zwischen den Bäumen verschwindet und nimmer wiederkehrt.

Im Foyer gibt es allerdings Eintopf mit Lammfleisch und Fladenbrot mit Schafskäse, und so wird Saffo doch noch zur Griechin. Ansonsten hat Open-air-Theater den Vorteil, daß man ungestraft rauchen und Hunde oder Babys mitbringen kann. Selbst wenn der Dackel in der ersten Reihe mit lautem Gebell auf Sapphos Willkommensgruß antwortet, stört das kaum; die Tonanlage übertönt eh alles. Deshalb kann man sich auch ungenierter unterhalten als sonst im Theater. Am Anfang lästern wir also über den wagenradgroßen weißen Blütenkranz, den Rhoan, der jugendliche Liebhaber, auf dem Kopf trägt, über die Sandalen der Sklavinnen mit ihren echt altgriechisch geriffelten Gummisohlen, über den verirrten Volkswagen, der plötzlich von links in die Bühne ragt, oder auch darüber, wie Rhoan seine Melitta immer ganz vorsichtig umarmt, damit's im Mikrophon nicht kracht.

Dann aber nach einiger Zeit lehnt sich meine Begleiterin zufrieden zurück und konstatiert, es sei doch eigentlich schön, mal wieder eine richtige alte Geschichte erzählt zu bekommen, von vorn nach hinten und ganz ohne Nachdenken. Von da an frönen wir hemmungslos unserem heimlichen Konservativismus und genießen, was es zu genießen gibt. Zwar deklamiert Sappho (Marion Wiegmann) ihre Verse reichlich eintönig, bloß von kleinen Juchzern und Schluchzern unterbrochen, zwar kann Natascha Bub als Melitta sich unter mädchenhafter Unschuld nur pubertäres Trotzgehabe vorstellen, zwar ist Klaus Birkefeld als Rhamnes ein übler Knödelbariton – aber spätestens als nach der Pause der Vollmond über der Szene steht, Menschen mit brennenden Fackeln aus dem fernen Walde dräuen und Sappho schließlich weit hinten im Gegenlicht entschwindet, ist das alles längst egal. Der Mond, die Fackeln, der Wald, sie spielen alle an die Wand.

Noch heute und morgen, jeweils 20 Uhr, Freilichtbühne Netzeband; weitere Infos: (0339) 2489828