■ In Deutschland wird die Kriminalitätsdebatte staatsfixiert geführt. Es fehlt ihr an zivilgesellschaftlichem Fundament
: Von Gaunern und Gästen

„Kaum gestohlen, schon in Polen“, hat der Berliner Volksmund die Lage im kriminellen Sektor schon 1990 beschrieben. Einige Beiträge zur Zeitdiagnostik zeigen: Die Kernbefunde der folkloristischen Spontankriminologie haben ihren Weg ins aufgeklärte Denken des postideologischen Zeitalters gefunden. Dessen zentrale Einsichten sind: 1. Am Stammtisch ist Wahrheit. 2. Politik ist die Kunst, Wählerreservoirs abzuschöpfen. 3. Ausländer sind keine Wähler. 4. Das Bekenntnis zum eigenen Ressentiment dient der psychischen Gesundheit.

Das ist die deutsche Variante jener gemäßigt linken Reformpolitiken, die in den USA unter „New Democrats“ und in Großbritannien unter „New Labour“ mit (Wahl-)Erfolg vorgedacht wurden. Die historische Chance dieser reformpolitischen Ansätze bestand darin, daß unter Bush und Major die konservative Hegemonie der Ära Reagan und Thatcher bröckelte. Bill Clintons und Tony Blairs Credo war und ist, daß die schönsten Reformprojekte nichts nützten, solange man keine Macht hat. Beide wußten, daß „Tough on Crime“ eine notwendige Qualifikation für den Wahlerfolg sein würde, und handelten danach. Soweit trägt die Parallele.

Mit „Tough on Crime“ hat die Clinton-Administration zum Teil erfolgreiche, zum Teil symbolische und zum Teil hanebüchene Politiken verfolgt. Viel wichtiger aber ist, daß sie mit ihrem Gespür für den Integrationsbedarf einer Gesellschaft, die ihr Auseinanderfallen fürchtet, die harte Linie nicht allein auf das ordnungspolitische Bein stellte, sondern ihr ein zweites, zivilgesellschaftliches gab. Erfolge im Bereich der öffentlichen Sicherheit verdankt sie nicht schärferen Gesetzen und nicht nur einer entschlosseneren Polizei. Die Erfolge beruhen darauf, daß die Organisationen und Vertretungen der Stadtteile, Nachbarschaften und Milieus, die ja nicht aus Übermut Kriminalität hervorbringen, sondern vor allem unter ihr leiden, in die Lösung der Probleme eingebunden werden konnten. Unter dem Begriff „Community Policing“ wird die öffentliche Sicherheit zur gemeinsamen Aufgabe von Polizei und Nachbarschaftsorganisationen gemacht. Das ist mehr als nur eine Floskel. Mit „Community Policing“ verwandelt sich das Verhältnis polizeiliche Repression gegen verdächtige Personengruppen in Bürger und Polizei gegen Bandenkriminalität und Drogenhandel. Mit diesem neuen Ansatz wurden nicht nur die Lagebeurteilungen realistischer. Gleichzeitig wächst die Unterstützung polizeilicher Maßnahmen seitens der sowohl von der Kriminalität als auch der Kriminalitätsbekämpfung Betroffenen.

Diese zivilgesellschaftliche Unterfütterung fehlt in der deutschen Debatte. Statt dessen wird eine staatsgesellschaftliche Tradition fortgeschrieben, in der die gesellschaftliche Hygiene Sache der zuständigen Behörden ist. Über die Einbeziehung zivilgesellschaftlicher Organisationen wird nicht diskutiert. Und so verzichtet man, wenn zum Beispiel von Ausländerkriminalität die Rede ist, weiterhin auf die Kompetenz der Organisationen der nationalen Minderheiten.

Es kommt aber noch ein zweiter Aspekt hinzu, der sich im vergleichenden Blick auf die USA rasch erschließt. Wer sein „Gastrecht mißbraucht, muß raus, und zwar schnell“, sagt Herr Schröder und verquickt damit die Unterscheidung kriminell/nicht kriminell mit der Unterscheidung deutsch/ausländisch. Das mag ja angehen, soweit wir es mit Gästen und ihren Verbrechen zu tun haben: ein Tourist etwa, der Kriminelles tut, oder ein Krimineller, der sich als Tourist tarnt. Nun trennt das deutsche Staatsbürgerrecht allerdings keineswegs zwischen Gästen und Ansässigen. Al Capone, wäre er in Neukölln statt in Brooklyn geboren, wäre wohl immer noch Italiener gewesen, als er seine mafiose Karriere machte, und hätte damit der deutschen Gesellschaft die famose Gelegenheit geboten, das Problem der Mafia unter dem Rubrum der Ausländerkriminalität zwar nicht zu lösen, aber sich seiner zu entäußern: Es sind ja keine von uns; was sie tun, ist nicht ein Problem unserer Gesellschaft, sondern deren Verunreinigung.

Die USA achten strikt auf Zugehörigkeit und vergeben die Staatsbürgerschaft nicht als Auszeichnung, sondern erwarten im Gegenteil, daß, wer die rechtlichen Bedingungen erfüllt, die Staatsbürgerschaft erwerben möge. Das hat zur Folge, daß straffällige Mitglieder ethnischer Minderheiten den Strafverfolgungsbehörden nicht als Ausländer, sondern als Bürger gegenübertreten; daß eine gute Chance besteht, daß der Cop, der sie verhaftet, ebenfalls einer Minorität angehört; und daß ihre politischen, intellektuellen und religiösen Sprecher mit am Tisch sitzen, wenn in Kongreßausschüssen oder bei öffentlichen Diskussionen „ihr“ Fall verhandelt wird. Welch ein Unterschied zu Deutschland.

Welche Kategorien von Nichtdeutschen mit welchem aufenthaltsrechtlichen Status Schröder im Sinne trug, als er vom Gastrecht sprach, ist unklar. Eindeutiger sind die Folgewirkungen solcher Reden. Wie in der taz vom 22.7. nachzulesen, verwandelt sich unterderhand die Kriminalitätsproblematik in die Diagnose des Scheitern der multikulturellen Gesellschaft: polnische Autodiebe, russische Mafia, Dealer vom Balkan und aus Schwarzafrika – soweit, so schlecht. Aber schon purzelt die ganze Malaise der bundesdeutschen Wirklichkeit oder des Unbehagens an ihr auf uns ein und durcheinander: Gewaltbereitschaft, Armut, Drogenkonsum, Neonazis und Wirtschaftsasylanten, Sexualmörder und Polen, die, des Autodiebstahls überdrüssig, nunmehr die Tarife im deutschen Baugewerbe versauen.

Das Gastrecht mag mißbrauchen, wer, wo immer das sei, zu Gast ist. Aber die dritte Generation der in Deutschland lebenden Ausländer als Gäste zu bezeichnen, offenbart eine Anschauung, die ihren historischen Ort in den sechziger Jahren hat. Was die Aufgabe gesellschaftlicher Integration erfordert, ist aber nicht der Rekurs auf längst überholte Modi der Ein- und Ausgrenzung, sondern die Bereitstellung der staatsbürgerrechtlichen Voraussetzungen der Demokratie. Zur Erinnerung: Es handelt sich dabei um eine politische Ordnung, in der der Kreis derer, die dauerhaft durch die darin getroffenen Entscheidungen gebunden sind, zusammenfällt mit dem Kreis derer, die an der Formulierung dieser Entscheidungen mitwirken können. Wer gegen Gesetze verstößt, bricht Recht und trägt die Konsequenzen. Kein ominöses Gastrecht, sondern ganz einfach richtiges Recht. Dietmar Schirmer