Leben aus der Retorte

■ Die Ethik hinkt dem Fortschritt hinterher

Schneller als erwartet haben die Genforscher am schottischen Rosslin- Institut den nächsten Schritt in Angriff genommen. Renommierte Wissenschaftler meldeten noch Zweifel an, ob das Klonschaf Dolly tatsächlich, wie von seinen „Schöpfern“ behauptet, durch eine Jungfernzeugung via Zellkerntransfer erschaffen wurde. Zu dem gleichen Zeitpunkt erblickte Polly, das zweite Schaf aus der Retorte, das Licht der Welt. Selbst in dem von US-Präsident Clinton in Auftrag gegebenen Ethikgutachten, das erst vor kurzem veröffentlicht wurde, heißt es, daß noch nicht sicher sei, ob das Experiment mit Dolly überhaupt reproduzierbar sei. Polly hat uns jetzt eines Besseren belehrt. Während die Experten noch darüber diskutierten, ob die Klonerei bei Mensch und Tier verwerflich sei, war Polly bereits – von Zeugung kann ja nicht mehr gesprochen werden – im Entstehen und wuchs als Embryo in einem Leihmutterschaf heran.

Wie schon bei Dolly hat der wissenschaftliche Forschritt wieder einmal die Politiker, Ethiker und die ganze Expertenschar überrundet. Noch bevor die zahlreichen angekündigten Gesetzesinitiativen zum Klonen, wie die von Clinton in den USA, die Aufnahme eines Zusatzartikels in die Bioethik-Konvention des Europarates oder in die Unesco-Deklaration zum Schutz des menschlichen Genoms, ihren Niederschlag gefunden haben, sind die Forscher schon einen Schritt weiter. Nun haben sie die Technik des Klonens mit der Manipulation des Genoms zusammengeführt.

Das Experiment mit Dolly hatte noch weltweite Empörung hervorgerufen. Zuerst waren sich Politiker und Wissenschaftler einig: „Den geklonten Menschen wird es nicht geben.“ Zaghaft und erst nach und nach verschafften sich die Stimmen Gehör, die auf den vermeintlichen Nutzen der neuen Technologie nicht verzichten wollen. Eins ist jetzt schon sicher, ein Verbot für das Klonen von Tieren wird es nicht geben. Mittlerweile steht selbst in Frage, ob ein Verbot für das Klonen von Menschenzellen mehrheitsfähig ist. Sind die Techniken erst mal ausgereift, werden Nutzen und Risiken erneut in die Waagschale geworfen und neu entschieden. Wer wird dann noch das Wort erheben und verhindern wollen, daß Klonen und Genmanipulation nicht zum Wohle der Gesundheit eingesetzt werden dürfen? Wolfgang Löhr