Stellvertreter der Träume

Von „Germanistan“ über Tanger bis Bangalore: Die Dissidenten sind die Karl Mays des Musikbetriebs  ■ Von Daniel Bax

Eine Anekdote aus dem globalen Dorf: Da saß Uve Müllrich in Portugal vor dem Fernseher und betrachtete eine Sendung des BBC-Auslandsfernsehens. Und was sah er? Den Briten Billy Bragg, der mit einem Kamerateam nach Bolivien gereist war und gerade am Rande des Titicacasees stand. Die Kamera schwenkte auf eine indianische Andenkapelle, die munter ein Volkslied flötete, und Uve Müllrich war baff: „Die spielten unser Lied!“

Es war „Fata Morgana“, jenes Stück, mit dem die Dissidenten in Brasilien einen Riesenhit landeten. Über 1,5 Millionen Male verkaufte sich der Song, nachdem er im Hintergrund einer populären Telenovela lief, und drang daraufhin bis in die hintersten Winkel Südamerikas vor. Eine erstaunliche Wegstrecke für ein Stück, dessen Melodie ursprünglich einem schwedischen Volkslied entlehnt und von drei Deutschen mit arabischen Musikern in Marokko aufgenommen wurde.

Basislager rund um den Globus

Wer jetzt die Hände über dem Kopf zusammenschlägt ob solcher Nivellierung regionaler Differenzen, den sollte auch die zweite Geschichte interessieren. Da saß Uve Müllrich nämlich in Tanger und versuchte, auf einer Laute ein vierhundert Jahre altes Kirchenlied aus einem Buch nachzuspielen. Und plötzlich begannen die Mädchen in der Küche die Melodie mitzusingen. Wie sich herausstellte, war das Kirchenlied zugleich ein uraltes marokkanisches Volkslied. Und Uve Müllrich vermutet, daß wandernde Troubadoure einst den mediterranen Musikaustausch vorangetrieben haben.

So gesehen, könnte man die drei Dissidenten als zeitgemäßes Update des Troubadour-Wandermodells bezeichnen, Vermischungstheoretiker und -praktiker zugleich, die sich irgendwo zwischen Mahavishnu Orchestra und Transglobal Underground einreihen. Im grotesken Gegensatz zur Rezeption in der Heimat, wo man sie als globetrottende Freak Brothers mit Multikulti-Marotte nie so recht ernst nahm, wurden sie anderswo als exotische Avantgardisten gefeiert.

Kein Wunder, daß sie sich im Ausland stets wohler fühlten als in Deutschland, wo zumindest Friedo Josch und Marlon Klein heute wieder wohnen. Der „Außenminister“ der Band, Uve Müllrich, hat zwar einen Wohnsitz im Berliner Norden, lebt aber die meiste Zeit in Italien und verfügt außerdem über ein Domizil in Portugal – „da kann man das arabische Radio so gut empfangen“. Darüber haben sich die Dissidenten rund um den Globus zahlreiche Basislager eingerichtet, überall dort, wo sie auf ihren Reisen länger Station machten. „Wir bezeichnen uns weltweit immer noch als Berliner Band“, sagt Uve Müllrich, der sich in diesen Wochen häufiger mit Journalisten trifft, um über das neue Dissidenten-Album zu sprechen. „Aber wir haben mit Berlin eigentlich nicht mehr viel zu tun.“

Troubadoure auf Traumreisen

Die eigentliche Geschichte der Dissidenten beginnt 1980 denn auch ganz woanders, nämlich in Zentralindien, wo sich Uve Müllrich während seiner mehrmonatigen Asientour entschließt, aus der Krautrock-Combo Embryo auszusteigen und mit Friedo Josch und Marlon Klein eine neue Band aufzumachen – daher der Name Dissidenten. Im Palast des Maharaja Bhalkrishna Bharti, am heiligen Fluß Narmada, wo auch Uve Müllrichs Tochter Bajka geboren wird, jammen die drei Aussteiger mit Musikern des Karnataka College of Percussion und der Sängerin Ramamani aus Bangalore, woraufhin das erste Album der Band entsteht: „Germanistan“, Unterzeile: „I wish I could stay far away“.

Das blieb fortan das Motto der Dissidenten, vielleicht das einzig konstante im Werdegang der „Karl Mays des Musikbetriebs, die stellvertretend Träume wahrnehmen“, wie Uve Müllrich es formuliert. „In unserer Biographie liest sich das alles ja auch ziemlich märchenhaft. Aber in Wirklichkeit waren wir keineswegs ständig auf Smaragde gebettet.“

Nach einer Tournee durch Nordafrika, ermöglicht mit Hilfe des Goethe-Instituts, bleibt die Gruppe 1983 in Tanger hängen, lernt zahlreiche marokkanische Musiker kennen und quartiert sich kurzerhand in der Kasbah ein. Wieder in einem Palast, diesmal beim Scheich Abdul Al Rashid Akaaboune, einer Autorität in Sachen arabischer Musik, entsteht mit jungen Musikern der lokalen Popgruppe Lem Chaheb das zweite Album, „Sahara Electric“. Die Maxi „Fata Morgana“ entwickelt sich in den Diskotheken Italiens und Spaniens zum Tanzflächenfüller, das selbstvertriebene Album findet sogar in England und Nordamerika Anklang und erklimmt die kanadischen Independent-Charts. Über das spanische Radio schallt es dann wieder zurück nach Marokko, wo bald darauf Millionen von Bootleg-Kassetten kursieren.

Uve Müllrich ist überzeugt, damit auch die junge Generation algerischer Rai-Musiker beeinflußt zu haben: „Ich glaube, daß ,Sahara Electric‘ denen auch einen Weg nach Europa gezeigt hat, im Sinne von: wie kann man dem Westen unser Zeug verständlich machen. Wir hatten aber auch Glück, daß wir mit dem Texter, dem Poeten Cherif Lamrani, einen totalen Glücksgriff gemacht haben. Manche unserer Zeilen wurden zu geflügelten Worten, die an die Wände der Universitäten gesprüht wurden. Ein bißchen unheimlich war uns das schon.“

Für die Dissidenten zugleich eine Lehre, vorsichtig zu sein: „Man kann einfach keine verschnipselten, rückwärts gespielten Koranverse dahersampeln, wie das manche in ihrer Naivität anfangs gemacht haben. Soviel Respekt muß schon sein.“

Von Tanger verabschiedete sich die Band, als das Popstardasein allmählich extreme Dimensionen anzunehmen begann. Die Pässe mußten bei der Einreise zwar nicht mehr vorgezeigt werden, aber der tägliche Gang nach Hause entwickelte sich unter dem Druck dauernden Schulterklopfens zunehmend zum Spießrutenlauf. Also siedelte man über nach Madrid, von wo aus die Band mit der in Marokko produzierten Platte „Life at the Pyramids“ im Gepäck aufbrach, Amerika zu erobern.

„Paten des Weltbeats“ beim Plattenmulti

1988 der Karrieregipfel: Die Dissidenten spielen bei der Opening- Gala des New Music Seminar in New York, zu dem für 400.000 US- Dollar Journalisten aus aller Welt eingeflogen werden, und ein paar Tage später schon unterschreiben die drei deutschen Independent- Pioniere einen Vertrag mit dem amerikanischen Plattenmulti Warner. Die „Paten des Weltbeat“, wie sie der amerikanische Rolling Stone seinen Lesern vorstellt, scheinen am Ziel ihrer Träume.

Doch der Zeitpunkt, zu dem „Out Of This World“ erschien, erweist sich als ungünstig: „Ausgerechnet als der Golfkrieg ausbrach und die allgemeine Arabophobie ihren Höhepunkt erreichte, wollte Warner drei arabisch singende Deutsche über MTV schicken. Und das, wo doch die Deutschen bekanntlich Giftgas an den Irak geliefert haben“, erinnert sich Uve Müllrich. Weil trotz ausgedehnter Nordamerikatour die Dissidenten die Erwartungen der Plattenfirma nicht erfüllen konnten, trennte man sich bald wieder. Immerhin konsolidierte die Liaison das Dissidenten-eigene „Exil“-Label finanziell, und so konnte das Trio 1992 wieder nach Indien zum befreundeten Maharaja von Gondagaon reisen. Ihm und seiner Bürgerrechtsbewegung stellte man sich im Kampf gegen ein Weltbank- Staudammprojekt zur Seite, bei dem Wälder wie Dörfer überflutet werden sollten. Vor Ort entstand das Konzeptalbum „Jungle Book“, wieder mit den bekannten Partnern, mit denen man schon eine Dekade zuvor zusammengetroffen war.

In Goa, dem Lieblingsbasislager der Dissidenten, kam dann eines Tages Sven Väth auf einem Elefanten des Weges geritten, und bald schon bastelte er im Lambarene-Studio der Dissidenten mal eben das Remix-Album „Jungle Book Part II“ zusammen.

„Wir haben unheimlich viel Material, das schon viele remixen wollten. Wir selbst sträuben uns noch, den Fundus zu recyceln, weil wir im Grunde immer noch an das Gespielte glauben. Aber es hat sich herausgestellt, daß wir überhaupt keine Berührungsängste haben müssen mit neueren Sachen wie Drum 'n' Bass.“

Rock'n'Roll-Esperanto all over the world

Und so steht die jüngste Dissidenten-Produktion „Instinctive Traveller“ ganz im Zeichen der Neunziger. Eine illustre Gästeschar aus der großen Dissidenten-Familie, darunter Streicher des Königlich- Marokkanischen Orchesters, der tamilische Sänger Manickam Yogeswaran und der deutsche Jazz- Trompeter Manfred Schoof, Pow- Wow-Sänger des kanadischen Ojibwe-Stammes und das Karnataka College of Percussion geben Gastpiele, die gefühlvoll mit Popklängen und TripHop-Touch verwoben werden.

„Instinctive Traveller“, das vor einnehmenden Popmelodien nur so strotzt, könnte den Dissidenten eine Chance bieten, aus dem Weltmusik-Ghetto auszubrechen und auf die Tanzflächen zurückzukehren – dort, wo alles begann. „Wir sind nicht die Kings, die mit Eingeborenen jammen. Wir haben immer Musiker gesucht, die wie wir das weltweite Rock'n'Roll-Esperanto sprechen“, ärgert sich Uve Müllrich über klischeehafte Projektionen.

The family that plays together...

Für den frischen Wind auf „Instinctive Traveller“ ist nicht zuletzt Uve Müllrichs gerade erst 18jährige Tochter Bajka verantwortlich, die der Platte mit ihrem souveränen Gesang den persönlichen Stempel aufdrückt. Bajka, die mit ihrer Mutter in Indien, Portugal und Südafrika aufwuchs, singt und rappt in Englisch, ihrer Muttersprache, und klingt, als hätte sie nie etwas anderes gemacht. Beflügelt vom beeindruckenden Einstand, bereitet sie jetzt ihr Solodebüt vor. Klaus Doldinger hat Interesse bekundet, Kruder und Dorfmeister stehen ganz oben auf ihrer Wunschliste. „Sie macht absolut ihr eigenes Ding“, sagt Uve Müllrich über seine Tochter, und da schwingt Ehrfurcht mit.

Er selbst ist in Gedanken bereits bei seinem nächsten Projekt, das ihn auf erneuter Suche nach den Urgründen kultureller Vermischung auf die ehemaligen Bismarckinseln führt, nach Papua- Neuguinea und Samoa. Dort, hat er gesehen, gibt es Ureinwohner, die noch schöne alte Volkslieder kennen. Zum Beispiel „Üb immer Treu' und Redlichkeit“.