■ Die Tennis-Gala ist vorbei. Jetzt wird der Mythos Jan Ullrich aufgebaut. Im Rampenlicht steht immer nur der Sieger. Dabei wird oft vergessen, daß die Tour de France ein Mannschaftssport ist. Wasserträger müssen im Hintergrund bleiben.
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Die Tennis-Gala ist vorbei. Jetzt wird der Mythos Jan Ullrich aufgebaut. Im Rampenlicht steht immer nur der Sieger.

Dabei wird oft vergessen, daß die Tour de France ein Mannschaftssport ist. Wasserträger müssen im Hintergrund bleiben.

Rituelle Opferungsfahrt

Die Tour de France, für den Schriftsteller und Zeichentheoretiker Roland Barthes nicht weniger als ein großes Epos, hatte ihren entscheidenden Moment vor einer Woche auf der Alpenetappe in Courchevel. Jan Ullrich überließ als Träger des gelben Trikots den Tagessieg generös seinem Widersacher, dem älteren Richard Virenque. Es war ein Sieg der Tradition. Im Tour-Reich hat der mit den Insignien des Anführens ausgestattete Held den Gefährten den Vortritt beim Einsammeln der Beute zu überlassen. Einen Moment lang mochte man mitfiebern, ob Ullrich, der Unerfahrene, dieses ungeschriebene Gesetz auch befolgen würde. Eddy Merckx hatte sich diesem einst widersetzt und wurde fortan Kannibale genannt. Unter Verkennung der rituellen Ordnung fraß er sie alle auf. Das ist die Sprache der Tour. „Der Mensch wird naturalisiert“, bemerkt Roland Barthes, „die Natur humanisiert.“ Der Rest ist Sache der Reporter. Maschinengleich überwand Ullrich mit erschreckender Leichtigkeit die „bösartigen“ Berge, stürzte „grausame“ Abfahrten hinab, um morgen nach Paris zu radeln. Oh, Champs-Élysées – ein Triumphzug.

Die Tour de France erinnert an das Spektakel einer Stammesgesellschaft. Die Rennställe haben einen Anführer, der, wie im Fall von Bjarne Riis und Jan Ullrich, auch schon einmal während des gemeinschaftlichen Jagens abgelöst werden kann. Nur dem Stärkeren gilt das Vertrauen der Gefährten. Der Enthronte reiht sich wieder ein in die Gruppe der fleißigen Helfer. Die Rennen sind Opferungsfahrten, ein Fest aus Torturen und Ritualen. Die Sportballaden besingen nicht nur Ullrich, hymnisch bekennen sie sich auch zur tragisch anmutenden Hingabe seines Helfers Udo Bölts. Als Königsdrama ihrer Helden ist die Tour geerdet durch die Leiden der einfachen Fußsoldaten. Sie feiert nicht zuletzt das Pathos der namenlosen Zuarbeiter, die Sinnhaftigkeit der leidvollen Existenz. „Warum machen die das bloß?“ An dieser Stelle irrte Roland Barthes, wenn er sagt: „Sobald die Wasserträger die Szene betreten, verkommt das Epos zum Roman.“

Wenn das wunderbare Aufblühen des Ereignisses Tour de France in diesen Tagen nicht nur eine Laune der Sportchronik ist, so möchte man es als triftige Zeitdiagnose nehmen. Die Tennis-Gala, auf der in den achtziger Jahren soziale Aufstiegsepisoden von durch den Ehrgeiz ihrer Eltern angetriebenen Kleinbürgerkindern vorgeführt wurden, ist vorbei. Das distinguierte Theater der Selbstbeherrschung, das durch den zornigen Boris Becker keineswegs in Frage gestellt, sondern als Krise und Überwindung immer wieder neu aufgeführt wurde, ist in allen Variationen durchgespielt. Am Ende ist nichts offen außer der Kirchensteuer der Steffi Graf.

An einen wie Jan Ullrich knüpft sich die Vorstellung eines neuen Sozial- und Heldentypus. Aufgewachsen in der alten DDR, aber zu jung, als daß sozialistische Tugenden nachhaltig eingebleut worden wären, ist er ein typischer Vertreter der 89er Generation, die unmittelbar nach der Wende auf neuen Gestaltungsspielraum hoffen konnte. Obwohl durch flächendeckende Arbeitslosigkeit hinreichend betroffen, sind sie die Generation der Zukunft, und wenn nicht alles täuscht, stehen die Zeichen bei aller Unsicherheit wieder auf das Bedürfnis nach kalkulierbarer Leistung. Tennis lebte von der plötzlichen Wendung im siebten Spiel und der mentalen Stärke im Tie-Break. Der Mythos Becker befeuerte sich immer wieder selbst dadurch, daß er nie ganz aus der Partie war. Man mußte immer damit rechnen, daß er ins Match zurückfand. Damit einher ging die Phantasie von schnellen Gewinnen an der Börse, in der die seinerzeit vielfach beschriebenen Yuppies in der nächsten Baisse den Grundstock zu unermeßlichen Reichtum zu legen hofften. Das Modell Deutschland – eine nicht enden wollende Erfolgsstory.

Die Party ist vorbei, die Tugenden des arbeitsamen Generalisten sind wieder gefragt. Die Gipfel des Radsports erklimmt man nur als Universalist mit optimalen physischen Voraussetzungen und Leidensbereitschaft. Jan Ullrich krümmt seinen Rücken in badischen Bergen, hat Gardemaß und einen atemberaubenden Erholungskurs. Den Rest macht die Mannschaft. Das T wie Telekom ist der Star, Prämienpoker um die Teilnahme an Davis-Cup-Spielen wird es im Radzirkus in dieser Form nicht geben. Die Helden des Radsports bewegen sich ohnehin vor unsicherem Zeithorizont. Für einige der großen Pedaltreter kam das Ende völlig überraschend. Im letzten Jahr erwischte es den Spanier Miguel Induráin, in diesem Jahr den Schweizer Tony Rominger, und Riis hätte den Platz an der Sonne gewiß noch gern ein wenig länger von Ullrich ferngehalten.

„Sportereignisse“, sagt der Berliner Sportwissenschaftler Gunter Gebauer, „sind eine Serie von Einzelbildern großer affektiver Themen unserer Gesellschaft.“ Selbst nüchterne Zeitgenossen können in diesen Tagen nicht leugnen, daß das Sportsystem wie kaum ein anderes die Eigenschaft zur Ultrahocherhitzung solcher Themen besitzt. Der Verkaufsboom von Rennrädern und steigende Telekom-Aktien mögen als Indiz genügen. Aber so ist das an der Börse: Gehandelt werden eben auch Stimmungen und Fiktionen. Etwas kühler betrachtet ist Jan Ullrich zunächst einmal einer, der einen guten Sommer hatte. Harry Nutt