Der Kuß nach dem Sprung

■ „Gesichte“, ein Film von Mathias Wil und Martin Heckmann

Am Ende eines langen Flurs, auf der Station einer Psychiatrie hat man eine Kommunikationsecke für die Patienten eingerichtet. Dort darf geredet werden, bis die Wirkung der Neuroleptika die Zungen schwer macht und die Köpfe bleiern.

Der Film Gesichte von den Hamburgern Mathias Wil und Martin Heckmann erzählt von Daniel, der an eine Heilung seiner Psychose in einem Aufbewahrungsort für Verrückte nicht glaubt, und das Alleinsein einer künstlichen Isolation und Entfremdung durch Medikamente vorzieht. Mathias Wil, der das Drehbuch geschrieben hat, litt 1988 selbst unter einer Psychose. Langsam begab er sich immer mehr heraus aus dem, was wir Wirklichkeit nennen. Unbelebtes schien belebt, der Himmel war lila, und die Kühe sprachen. Zwischen ihm und seinem Freund gab es keine Verbindung mehr. Als die Krankheit geheilt war, beschließen die beiden, ihre Erfahrungen in einem 30minütigen Film darzustellen.

Auf der Flucht vor „Haldol“und „Akineton“, der täglichen Dosis Realität, macht sich der psychotische Daniel mit einem Kinderwagen auf den Weg nach Italien. Die für ihn lebenswichtigsten Dinge, schiebt er vor sich her: Schlafanzug, Videorekorder, Barbie-Puppen, Kerzen. Er verbringt einige Zeit in einem verlassenen Haus in Umbrien. Hier gilt nur das Gesetz der Psychose. Niemand schützt ihn, wenn die Wände des Hauses auf ihn zukommen. Niemand verbietet ihm, unzählige Kerzen anzuzünden oder mit seinen Barbie-Puppen zu tanzen. Die Vergangenheit ist hier gegenwärtig und auch von der Zukunft nicht mehr zu trennen. Lisa taucht auf, spricht von ihrer Sehnsucht nach einem Kuß, den sie sich durch einen Sprung aus dem Fenster erkaufen soll. Wo sind wir? In einer Rückblende? Im Kopf des Verrückten? Oder sind wir am Ende selber ein bißchen verrückt?

Nichts erklärt dieser Film. Schonungslos wirft er uns in diese psychotische Welt, eine bedrohliche Mischung aus Angst und Wahn. Die Stärke des Films ist der ständige Perspektivenwechsel. Inneres Empfinden, der Blick von innen nach außen und der Blick des distanzierten Beobachters auf Daniel alternieren. Mal sehen wir einen tanzenden Spinner, mal kommen Bäume wispernd auf uns zu, drohen uns Wände zu überfahren.

Die geschickte Kameraführung gaukelt uns vor, wir säßen mittendrin in der Angst, und dann sehen wir ihn wieder, diesen verlorenen, einsamen Menschen, der von seinen Halluzinationen gejagt durch unsere Welt irrt.

Eine mutige Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und eine künstlerisch anspruchsvolle Dokumentation eines Heilungsprozesses. Der Film, der im September im B-Movie zu sehen sein wird, ist anstrengend und macht Angst. Zeigt er doch, was wir tief im Innern eigentlich wissen: daß die Grenzen zwischen verrückt und normal ganz leicht verrücken.

Katja Fiedler

Informationen unter: http://opendoor.com/garten/gesichte.html