■ Richard Herzinger bekennt sich zur egoistischen Gesellschaft und verurteilt die Tyrannei des Gemeinsinns
: Warum alle Opfer sein wollen

taz: Bundespräsident Roman Herzog und andere Politiker beklagen den Verlust an Gemeinsinn in der Gesellschaft. Jeder denke nur an sich. Sie aber fordern ein „Bekenntnis zur egoistischen Gesellschaft“ und behaupten, die Appelle an den Gemeinsinn seien nur Heuchelei. Warum?

Richard Herzinger: Die Äußerung von Herzog ist bezeichnend für den Trend, einen angeblich enthemmten Individualismus zu beklagen. Es wird gefordert, wir müßten uns rückbesinnen auf eine Gemeinschaftlichkeit. Dies ist aber eine Illusion, weil man damit versucht, die Gesellschaft auf eine moralische Läuterung von Individuen zu begründen.

Herzog betont, ein Sozialstaat könne nicht funktionieren, wenn jeder nur seinen Vorteil daraus ziehen will. Steuermogeleien beispielsweise seien zum Volkssport geworden.

Das Gejammer über die Steuerhinterziehung ist ein gutes Beispiel: Es wird suggeriert, der Bürger müsse ein moralisches Gewissen zur Steuerzahlung entwickeln. Mit diesen Appellen aber wird verdeckt, daß das System mangelhaft ist, bestimmte Steuerschlupflöcher ermöglicht. Die richtige Antwort wäre, das Steuersystem in Einklang zu bringen mit der gesellschaftlichen Realität des Egoismus, statt an eine Moral zu appellieren.

Folgt man Ihren Thesen, wird der Diskurs über den Gemeinsinn geführt, um sich vor der Tatsache des Egoismus zu drücken. Warum aber ist der Gemeinschaftsdiskurs jetzt so populär?

Wir haben eine Krise, eine wirtschaftliche Krise, und keine oder unzureichende Konzepte dagegen. Es gibt ein extremes Beharrungsvermögen in der Politik, aber auch in der Wirtschaft. Da ist es einfacher, die Verantwortung allgemein auf die Gesellschaft zurückzuwerfen. Immer wenn die Politik beispielsweise bei der Arbeitslosigkeit am Ende ist, werden entweder die Gewerkschaften dafür verantwortlich gemacht, weil sie zuwenig Gemeinsinn beweisen und nicht verzichten wollen, oder die Unternehmer sind schuld, weil sie endlich ihrer staatsbürgerlichen Pflicht nachkommen und mehr Arbeitsplätze schaffen sollten.

Das heißt, der Appell an den Gemeinsinn ist Zeichen politischer Ohnmacht und nicht etwa die angemessene Antwort auf einen zunehmenden Individualismus?

Ich halte die Rede von der atomisierten Gesellschaft und dem schwindenden Gemeinsinn in der Tat für ein Gerücht. In fast allen Sektoren der Gesellschaft, auch in großen Unternehmen der Wirtschaft, herrscht im Gegenteil zuviel Gemeinschaftsbindung. Da gibt es zum Beispiel auf den Managementebenen einen Korpsgeist. Die Undurchlässigkeit von Großorganisationen ist das Problem, nicht zuviel Individualismus.

Gemeinschaftlichkeit fördert die Abschottung, den Ausschluß?

Tatsächlich tobt der Egoismus immer dann am heftigsten, wenn er sich als Gemeinschaftsgeist ausgeben kann. Das konnte man an der berüchtigten Volksgemeinschaft genauso sehen wie heute in Nachbarschaften, die mißtrauisch sind gegenüber allem Fremden.

Dennoch haben Gemeinschaften doch auch die Aufgabe, ausgleichend zu wirken, Solidarität mit den Schwächeren in der Gemeinschaft zu üben, Opfer zu vermeiden.

Die Opferdebatte dient ausgezeichnet dazu, egoistische Interessen zu verschleiern. Sich zum Opfer zu stilisieren, hat hohe Attraktivität gewonnen. Alle sind plötzlich Opfer. Der korrupte Politiker ist Opfer einer Pressekampagne, die Kohlearbeiter sind Opfer einer Verschwörung des Weltmarktes. Wer sich zum Opfer erklärt, will dadurch einen Wettbewerbsvorteil erringen, nimmt aber ein höheres Gemeininteresse für seine egoistische Sache in Anspruch.

Nach Ihrer Logik würden die Sozialdemokraten am Ende tatsächlich nur den Egoismus von Gemeinschaften vertreten.

Es gibt heute eine eigenartige Berührung zwischen dem sozialdemokratischen Solidarismus und dem Konservativismus. Um ihre Argumente für die Bewahrung des Sozialstaats in seiner jetzigen Form zu belegen, müssen sozialdemokratische Vertreter immer mehr auf Elemente konservativer Tradition zurückgreifen. Das sind die Elemente des fürsorglichen Staates, der Idee, daß der Staat der Wächter der Moral ist.

Sie behaupten, der Diskurs über die fehlende Gemeinschaftlichkeit beherrsche die gesellschaftliche Diskussion. Aber in den Medien geht es doch unaufhörlich um die Wettbewerbsfähigkeit des Individuums, des Unternehmens, des Standortes.

Der Gemeinschaftsdiskurs ist tatsächlich nicht der ausschließliche, aber er ist sehr dominant. In der Tat wird die Globalisierung als Bedrohung aufgebaut. Es wird gleichzeitig ein Trostszenario entworfen: Wir müssen uns ändern, wir müssen mehr Gemeinschaft entwickeln, sonst wird die Globalisierung uns zerstören. Somit ist die Globalisierungsdebatte auch ein Verschleierungsargument für Untätigkeit.

Verschleierung hin, Heuchelei her. Tatsächlich gibt es in unserem Sozialsystem ein Finanzierungsproblem, was durch die Massenarbeitslosigkeit bedingt ist. Würde man eine egoistische Gesellschaft favorisieren, kämen jetzt einfach nur die Stärkeren zum Zuge, bei den Schwächeren würde gekürzt.

Die Freiheit muß natürlich, wie Friedrich Hayek sagt, eine Freiheit unter dem Gesetz sein. Es muß eine Möglichkeit geben, die Schwachen vor den Starken zu schützen. Was das Sozialsystem betrifft, gibt es zum Beispiel Vorschläge, daß der Staat den Bürgern ein Mindesteinkommen gewähren sollte. Das Mindesteinkommen müßte von den Bürgern, die verdienen, dann zurückgezahlt werden. Ein solches System wäre individualistischer, würde unabhängig von einer Begründung eine Grundsicherung gestatten.

Gerade ein staatliches Mindesteinkommen für die Schwächeren setzt aber ein hohes Maß an Gemeinschaftsgeist, an Solidarität voraus.

Wenn man den Leuten klarmacht, daß das Mindesteinkommen beispielsweise nicht teurer ist als die heutige Sozialhilfe, dann wären die Bürger dazu bereit, das würde ihrem Egoismus nicht widersprechen. Aber um Mißverständnisse auszuschließen: Ich habe kein Buch über die Reform des Sozialstaats geschrieben. Ich bin keineswegs für die Abschaffung des Sozialstaats. Es ging mir um ein Menschenbild, einen Diskurs, eine Ideologie, die behauptet, zuviel Freiheit, zuviel Individualismus seien gesellschaftsschädigend. Interview: Barbara Dribbusch