Plädoyer gegen Politbüro begonnen

■ Auftakt der Plädoyers im Berliner Politbüroprozeß. Angeklagte streiten darüber, inwieweit sie über die Mauertoten informiert wurden. Oberstaatsanwalt: "Prozeß mit historischer und politischer Dimension"

Es war eine Distanzierung der subtilen Art. Bevor die Staatsanwaltschaft gestern im Moabiter Landgericht zu ihrem Plädoyer ansetzte, rückte Günther Kleiber von Egon Krenz ab. Über die näheren Umstände von Grenzzwischenfällen sei er nicht informiert gewesen, beteuerte der 65jährige und schwenkte mit der Bemerkung auf die Verteidigungsstrategie von Günter Schabowski ein. Jeder im Politbüro habe sich, konterte Krenz, durch die Umlaufmappen informieren können. Ob die beiden Angeklagten aber einen Blick dahinein warfen, wußte der letzte Staatsratsvorsitzende der DDR allerdings auch nicht zu sagen.

Das Wortgeplänkel, das gestern vor dem Plädoyer der Staatsanwaltschaft stattfand, war nicht ohne tieferen Sinn: Wie weit die Mitglieder des Politbüros konkret Kenntnis über die Mauertoten hatten, wird möglicherweise das Strafmaß bestimmen. Der frühere SED-Bezirkschef von Ostberlin, Schabowski, hatte kürzlich bestritten, jemals detailliert über Fluchtversuche informiert worden zu sein. Daß sie mit einer Verurteilung rechnen müssen, gilt als sicher, zumal erst kürzlich das Bundesverfassungsgericht eine Klage von früheren DDR-Grenzgenerälen abwies. Die Offiziere, allesamt wegen der Mauertoten verurteilt, müssen nun ihre zum Teil langjährigen Haftstrafen antreten.

Unter diesem Vorzeichen begann gestern im Politbüro-Prozeß das Plädoyer von Oberstaatsanwalt Bernhard Jahntz. Unterhalb seines Hochsitzes saßen aber nur noch die Hälfte der einst sechs Angeklagten. Drei hochrangige SED- Mitglieder – Chefideologe Kurt Hager, der Leiter der Parteikontrollkommission Erich Mückenberger und zuletzt der Kaderchef Horst Dohlus – waren wegen Krankheit ausgeschieden.

Den drei verbliebenen Politbüromitgliedern Krenz, Kleiber und Schabowski wird vorgehalten, den Tot von Flüchtlingen an der innerdeutschen Grenze billigend in Kauf genommen zu haben – Schabowski und Kleiber müssen sich für drei konkrete Fälle, Krenz für vier Fälle verantworten. Scharf wies Oberstaatsanwalt Jahntz den insbesondere von Krenz wiederholt vorgetragenen Vorwurf zurück, das Gericht handele im Auftrag der Bundesregierung, sei nichts weiter als „Siegerjustiz“. „Mit dem Untergang der DDR gab es Besiegte“, sagte Jahntz. Dies seien aber nur die Herrschenden gewesen, die vom eigenen Volk besiegt worden seien.

Im Verfahren gehe es jetzt um die Verletzung des Rechts auf Leben. An der Grenze seien zwischen 1961 und 1989 mindestens 263 Flüchtlinge getötet worden, davon 32 durch Minen. Das SED-Politbüro sei sowohl für den Ausbau der Grenze als auch für die Einschränkung der Reisefreiheit von DDR-Bürgern maßgeblich gewesen. „Dieser Strafprozeß hat eine historische und politische Dimension“, sagte Jahntz. Dem hätten sich einige Beteiligte nicht gewachsen gefühlt. So hätten einige Angeklagte Erklärungen abgegeben, die mit der Urteilsfindung nichts zu tun gehabt hätten. „Mehr als der Begriff Kinderstube fällt mir dazu nicht ein.“ Das Plädoyer der Staatsanwaltschaft wird voraussichtlich erst am Donnerstag beendet, voraussichtlich mit der Forderung zum Strafmaß. Severin Weiland