Große Ferien für Rechtschreibreform

■ Verwaltungsgericht Wiesbaden stoppt für hessische Schulen vorerst die Umsetzung der umstrittenen Regelung: Kultusminister ist nicht kompetent. Bundesbildungsminister Rüttgers: „Jetzt ist das Kind in den Brunnen gefallen“

Frankfurt/M./Wiesbaden (taz/rtr/dpa) – Erstmals hat ein Gericht die Einführung der umstrittenen Rechtschreibreform vorläufig gestoppt. Das Verwaltungsgericht Wiesbaden untersagte gestern die Umsetzung der Reform an hessischen Schulen. Mit seiner Entscheidung gab das Gericht dem Eilantrag eines Vaters aus Marburg recht. Die Entscheidung in der Hauptsache steht noch aus.

Nach Ansicht der Richter bedeuten die neuen Rechtschreibregeln eine so wesentliche Änderung von Bildungszielen, daß dafür nach der Werteordnung des Grundgesetzes und der hessischen Verfassung ein förmliches Gesetz notwendig ist. Zwar hätten die Kultusminister für den schulischen Bereich bestimmte Kompetenzen. Dies gelte aber nicht für die Einführung einer neuen Schreibweise für die Bevölkerung schlechthin.

Die Kultusminister hatten die Einführung der Reform am 1. Juli 1996 in Wien gemeinsam mit Vertretern Österreichs, der Schweiz, Liechtensteins, Belgiens, Ungarns und Rumäniens sowie der Autonomen Provinz Südtirol in Italien besiegelt. Nach ihrer Einführung am 1. August 1998 soll eine Übergangsfrist für die Umsetzung bis 2005 gelten. In den letzten Monaten hatte die Kritik an der Reform zugenommen. Auch Bundespräsident Roman Herzog hatte sich wie zahlreiche Schriftsteller und eine große Gruppe von Bundestagsabgeordneten aller Parteien gegen die Reform gewandt. Die Abgeordneten sprachen den Kultusministern das Recht ab, eine so gravierende Neuerung wie die Reform der Rechtschreibung zu entscheiden, ohne daß die Parlamente eingeschaltet wurden.

Das Gericht schloß sich dieser Ansicht in seinem Urteil an. In der Vergangenheit habe man sich darauf beschränkt, nur das festzuschreiben, was sich an sprachlicher Entwicklung in der Bevölkerung bereits vollzogen habe. Für eine Reform, die davon losgelöst die Rechtschreibung grundlegend ändere, fehle den Ministern die Regelungskompetenz, urteilten die Richter. Nach ihrer Ansicht läßt der Erlaß, mit dem der hessische Kultusminister die neuen Regeln bereits übergangsweise vor dem geplanten Inkrafttreten der Reform am 1. August 1998 eingeführt hat, den Entscheidungsgremien der Schulen vor Ort keine Wahlmöglichkeit.

Bundesbildungsminister Jürgen Rüttgers (CDU) erklärte, jetzt sei „das Kind in den Brunnen gefallen“. Ohne ausreichende Debatte könne man eine Reform dieser Reichweite nicht verordnen. Die deutsche Sprache gehe alle an, der „Fall Rechtschreibreform“ zeige, daß bildungspolitische Fragen stärker in der Öffentlichkeit und in den Parlamenten diskutiert werden müßten. In Hessen will der Kultusminister das 23seitige Urteil zunächst genau prüfen und danach entscheiden, ob er Beschwerde einlegt, sagte ein Sprecher des Ministers auf Anfrage der taz. „Gott sei Dank sind jetzt Ferien.“ Deshalb laste „kein unmittelbarer Entscheidungsdruck“ auf den Verantwortlichen. Das niedersächsische Kultusministerium erklärte, dieses Urteil binde nur Hessen, und auch das nur vorläufig. Um ein Ende der Konfusion zu erreichen, wäre es wohl das sinnvollste, jetzt das Bundesverwaltungsgericht entscheiden zu lassen. Die Berliner Schulsenatorin Ingrid Stahmer (SPD) will trotz des Wiesbadener Urteils an der Einführung der Rechtschreibreform festhalten. Die Entscheidung habe bisher keine Auswirkungen auf die Bundeshauptstadt, sagte sie.

Zur Zeit sind in sechs weiteren Bundesländern Klagen vor Verwaltungsgerichten gegen die Rechtschreibreform respektive den Zeitpunkt ihrer Einführung anhängig. In Schleswig-Holstein will eine Bürgerinitiative nach der Sommerpause ein Volksbegehren gegen die Reform starten. kpk Kommentar Seite 10