Der Totentanz der Ananas

■ Chungking Express: Wong Kar-wais wunderbares Kino aus dem Zwischenreich des Zufalls und des Wartens im 3001

Die Seife macht dem Polizisten Nr. 663 Sorgen. „Du mußt nur Vertrauen haben“, tröstet er das melancholische Utensil, damit es sein sicheres Verschwinden etwas leichter nehmen kann. Dann bügelt er sein Hemd, weil es „etwas Wärme“braucht. Eine Fast-Food-Verkäuferin träumt sich nach Kalifornien, verliebt sich auf dem Weg dorthin in 663 und sorgt dafür, daß ihm niemals die Seife ausgeht.

Eine Frau mit blonder Perücke entführt kleine Kinder, erschießt unzuverlässige Drogenkuriere und erledigt beides so gleichgültig, als rücke sie nur ihre Sonnenbrille zurecht. Die trägt sie immer, auch nachts, denn schließlich kann man nicht wissen, „wann es regnet und wann die Sonne scheint“. Ein Polizist mit der Dienstnummer 223 trauert um eine Verflossene mit ausgiebiger Ananasleidenschaft. Seit der Trennung hortet er Fruchtkonserven mit dem Verfallsdatum seiner Liebe. Im Gewühl sieht er die blonde Frau, er lauert ihr auf, sie flieht, sie treffen aufeinander. „Mögen Sie Ananas?“

In Wong Kar-wais viertem Film Chungking Express von 1996, der als erster seiner Filme in deutschen Kinos lief und jetzt wieder im 3001 zu sehen ist, wird ganz Hongkong zu einem unübersichtlichen Wartesaal, vor dessen speckigen Kachelwänden sich tragikomische Geschichten entspannen. Eine Handkamera flattert mal aufgeregt wie eine Gesellschaftsreporterin, mal wie eine schüchterne Dokumentaristin durch das Gewühl der Passanten. Auf der Tonspur zischendes Fritierfett, Zugansagen, Schlager, abgerissene Telefongespräche. Für den Regisseur ist „das Ganze wie ein Musical aus den Sixties. Die Gefühle sind unschuldig und simpel: glücklich oder kreuzunglücklich.“Diese aufs Nötigste abgespeckten Befindlichkeiten brachte der ehemalige Grafikstudent „schnell mal beim Frühstück“auf's Papier. Nachts wurde gedreht. Ohne großes Budget, ohne vollständiges Skript, ohne Genehmigung. „Wir arbeiteten wie die Diebe, nahmen uns einfach alles, was wir brauchten.“

Für aufwendige Ausleuchtung und Kamerafahrten war keine Zeit, und die provisorischen, nervösen Bilder blieben zunächst eine rein pragmatische Angelegenheit. „In Hongkong hielt man mich für verrückt. Dort macht man keine Filme wie diese.“Dort macht man Komödien und Actionfilme, Bilderstürme vom Laufband einer geölten Produktionsmaschinerie, die angesichts eines sich bald verändernden Filmmarktes in blanke Verwertungshysterie zu fallen scheint.

Bis zum Verfallsdatum dieses Kinos am 31. Dezember gilt es noch einmal rasch zuzugreifen, bei dem Kino der Schwertkämpfer und Karatevirtuosen, der Amazonenheere und Märchenprinzessinnen. Seit acht Jahren bedient sich Wong Kar-wai bei Samuraiehren und Killerdünkeln (As Tears go by), Kung-Fu-Orgien (Ashes of Time), Mythennostalgie (Days of Being Wild) oder Mafia-Eastern (Fallen Angels). Seine Arbeiten haben eine Art Interims-Kino installiert, das ein Hongkong-Lebensgefühl widerspiegelt fern aller Geschäftigkeit und Konsumfreuden. Statt dessen Nouvelle Vague in den Köpfen und Totentänze in der Seele. Imbiß und Waschraum, das muß reichen für eine Begegnung, eine Liebe, eine Trennung.

Birgit Glombitza

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