Das fliegende Klassenzimmer

Hallo Hamburg, grüß dich Berlin, Servus München! Trotz Internet und Intercity werden in jedem der Weltdörfer lokal geprägte Varianten von Popmusik gespielt. Ist Schwabing ein Rhizom aus Deutschland? Ein Städtevergleich  ■ Von Gunnar Lützow

Das waren Zeiten: Anthologien hießen „Benzin im Blut“, die Parole lautete „Her mit den Abenteuern“. Von Hagen aus konnte man mit ein paar Kumpels die Welt erobern und – ich will den alten Namen nicht mehr haben, und wenn ich weggeh', brauch' ich keinen Rückfahrschein! – sich in aller Ruhe vom Acker machen, um in der nächstbesten Metropole als universeller Tellerwäscher ein paar Szenen aus dem Leben der Boheme nachzuspielen und den eigenen Bildungsroman zu Ende zu schreiben.

Doch wie es so kommt: Plötzlich ist Postmoderne, nichts geht mehr und doch auch wieder alles. Glück, Geld und Germanistikstudium hat man (irgendwie) bereits auf die Habenseite gebracht in seiner Billigbuden-Inner-City-Existenz, die Popmusik schreitet auf derselben Stelle weiter voran, muß selbstredend allabendlich neu diskutiert werden – und schon ist man wieder mittendrin im Inzest. Auf jedem Konzert die gleichen 500 Dummbatzen, oft in schönster Personalunion von Diskursteilnehmer, Diskursgegenstand und Discotürsteher. Zeittotschlagen ist eben im Verein am schönsten, bloß: Hätte man das damals gedacht, daß es in der Innenwelt der Binnenwelt genauso dumpf zugeht wie draußen vor der Tür?

Die Regeln dieses Spiels – die Poplieder erzählen reichlich davon – scheinen überall die gleichen. Und kennen doch so etwas wie lokale Varianten, Schulen sagt man wohl, in denen das Kolorit eines Ortes eigengesetzlich und quasi überindividuell Musik wird: Hallo Hamburg, grüß dich Berlin, Servus München!

Berlin, erschüttert

Mutter zum Beispiel sind die berlinischste Band, seit es das alte Berlin nicht mehr gibt – von Beginn an ein wenig krank, auf ewig im Untergang begriffen. Mit einer Live- Compilation melden sie sich von der einstigen Insel der Unseligen zurück, bevor der letzte das Licht anknipst in Kneipen wie dem Kumpelnest und feststellt, wie Berlin sich, dich und deine Welt verändert hat. Noch einmal darf man Max Müller und Kollegen zuhören, wie sie die volle Härte als Wucht in Tüten zelebrieren: Nix Disco, Demokratie oder herrschaftsfreier Diskurs – es geht ums Draußensein, um die Fiktion einer „eigenen Gesellschaft mit eigener Moral“ (so der Name des Mutter- Labels), klanggeworden in monolithischen Krachskulpturen, garniert mit Texten, die an den Rändern des Zumutbaren operieren und irgendwo zwischen existentialistisch angehauchtem Nihilismus und dem mangels Berlinzulage geschlossenen Theater der Grausamkeit rausbrüllen: Die Kinder gehen alle tot, es ist dein Problem, laß es so enden.

Wie alle Mutter-Platten klingt auch diese beim ersten Durchhören maximal wie die ausgebrannte Mülltonne im zweiten Hinterhof, vermag aber bei zufälligen Begegnungen im Morgengrauen immerhin Erschütterungen auszulösen, wie es vor Ewigkeiten vielleicht „Halber Mensch“ von den Neubauten oder „Confusion is Sex“ von Sonic Youth taten. Außerdem liefern die zwischendrin plazierten Schnipsel einen zweiten Zugang zum Phänomen Mutter. Die Ansagen, Radiointerviews, Anrufe und Konzertpausen sind entsprechend betitelt: „Ich komm aus Berlin“, „Spex Cover“, „Eindimensionale Brachialität“, „Technik ist unwichtig“, „Wieder einen Raum leergespielt“, „Das allerletzte Lied“ – um mal die wichtigsten zu nennen.

Mutter, das ist im Berlin von heute – wo Techno durchgesetzt ist und selbst dem Rock verpflichtete Bands wie Surrogat einen sehr viel kraftvolleren Output haben – fast schon Geschichte; eine Stadtrundfahrt durchs Biotop von gestern, das im Schatten von Potsdamer Platz und zukünftigem Regierungssitz eine ungeahnte, leicht nostalgische Gemütlichkeit entwickelt: Schau, hier stand das Ex 'n' Pop; hier standen wir jeden Tag, tranken Bier und Schnaps und kümmerten uns nur um uns. So wurden wir, was wir waren, so kamen wir über den Berg und unter die Räder. Nächster alternativer Stadtrundgang um 23 Uhr, Treffpunkt Kottbusser Tor. Berlinzulage, Zittergroschen und Sonnenbrillen sind mitzubringen.

Hamburg, ironisch

Tocotronic sind die Hamburger, die nie Hamburger sein wollten, aber gerade als Neue in der „Hamburger Schule“ – so ist das nun mal – am breitesten mit der Stadt und ihren Marotten identifiziert wurden. Wir erinnern uns: Lustige T-Shirts, komische Trainingsjacken und seltsame Frisuren. Dazu immer einen kessen Spruch zur Hand, wenn es darum ging, sich erstens von den authentischen Krachmachern der vorhergehenden Generation und zweitens von der repressiven Toleranz all der wohlmeinenden Gemeinschaftskundelehrer und Eltern aus der Volvo-Fraktion zu emanzipieren.

Gegen das eine half schon ein Song wie „Es ist einfach Rockmusik“, der Rest wurde mit schwerstem Geschütz beackert: Michael Ende und sonstige Jongleure des guten Willens verachtete man wegen ihrer Kleinkunst zutiefst, und wenn man kam, um sich zu beschweren, dann über Unfreundlichkeiten am Telefon. Gestreckt mit grungiger Gitarrenpower, ultrasüßer Melancholie und dezent eingeflochtenen Verweisen auf Wittgenstein, Cioran, Rohmer, ging das mit der Kraft der drei Songformate (Punkdresche, Rockschmock und Brachialballade) drei Alben lang so gut, daß nicht nur die österreichische Band Heinz aus Wien einen Song wie „Ich hab' mit Tocotronic Bier getrunken“ sang – auch den Berliner Junggaleristen Thilo Wermke konnte man mit einem T-Shirt, auf dem „Ich verstehe mich als Teil einer Jugendbewegung“ stand, die Auguststraße entlangspazieren sehen.

Doch es scheint, als hätte dieser gleichsam schlaue wie niedliche Approach seinen Zenit überschritten. Mit der neuen CD „Es ist egal, aber“ (Motor Music) geht es zwar musikalisch endlich einen Millimeter nach vorne, doch inhaltlich ist auf den Gipfeln der Verzweiflung nicht mehr soviel los. Auch die Tocos stellen sich inzwischen die Fragen, die immer dann auftauchen, wenn man zu lange Urlaub von der Gegenwart gemacht hat: „Gehen die Leute auf der Straße eigentlich absichtlich so langsam? Wollen sie verhindern, daß wir vorwärtskommen?“ Da hilft auch der Protestsong gegen all die Protestsongs wenig, der nun eifrig nachgereicht wird: „Alles, was ich will, ist nichts mit euch zu tun haben“, heißt es da markig, um dann elegant auszubügeln: „Das sagt sich sehr ungestört, wenn man sowieso nicht dazugehört.“

Das Erstaunlichste an Hamburg und seinen Bands ist nun, daß noch die existentiellste Geste irgendwie „politisch“ verstanden wird – wohl, weil der sog. „Radical Chic“ hier die längste und verschwörerischste Tradition hat. Sind Hamburger einfach clever? Doch irgendwie Kaufmannssohntradition – auch wenn man in Teilen bloß zugezogen ist? Tocotronic jedenfalls haben das Kunststück geschafft, nirgends dazuzugehören und doch an ziemlichen vielen Fronten dabeizusein. Man merkt es nicht nur bei den vielen Mädchen auf den Konzerten, sondern auch, wenn einem von jungen Menschen Flugblätter in die Hand gedrückt werden, auf denen tatsächlich „Wir kommen, um uns zu beschweren“ stand – und zwar gänzlich unironisch über Nazis, Polizei und den Rest des Systems. Du möchtest auch Teil einer Jugendbewegung sein? Fein, wir treffen uns jede Woche mittwochs, deine Antifa.

Munich, swinging

Und München? München ist die Stadt, die man als Nordei einfach nicht versteht, nicht verstehen kann, niemals verstehen wird – außer daß Schwabing irgendwie ein Rhizom aus Deutschland ist und Disco dort in den Siebzigern als „Sound of Music“ mit ganz speziellem Easy-Glamour neu erfunden wurde – vielleicht ist die bayerische Hauptstadt ja so etwas wie das Los Angeles Deutschlands? Wo alle satt, reich und sexuell befriedigt sind?

Jedenfalls schlägt die jetzt-kompatible Abteilung der fröhlichen Popfraktion in dieser Saison gleich doppelt zu: Die Merricks unternehmen einen Ausflug ins alte Jugendzimmer und frickeln detailverliebt an ihrer rekonstruktiven Spätvision des „Sound of Munich“ (Sub Up Records). Eine halbe Stunde mit den Merricks in die Siebziger, den Disco Dandies und Schwabing Girls beim Stampfen durchs klebrige Musicland zuschauen, und auf einmal wird zumindest klar, wogegen die ganzen Berliner Krachmacher angingen.

Weniger straight konzeptuell, aber dafür mit Unterstützung des hamburgstämmigen Wahlmünchners Thomas Meinecke arbeiten Isar12, benannt nach der Polizeiserie „Funkstreife Isar12“ (und erschienen auf Trikont). Mit handelsüblichen Dialogfetzen, wie man sie auch im Kirmestechno gerne verwendet, illustriert das Duo zum Beispiel einen Track über einen Agenten, der für das MfS in Sofia war – ohne daß man den Eindruck hat, hier wüßte jemand, wovon er singt. Es geht insgesamt vielleicht mehr ums Fünfe- grade-sein-Lassen, um antipuritanisches Experimentieren mit Themen wie: Verschollen in Acapulco, am Strand von Brighton, in den Outskirts von Memphis. Das Ganze aufgekocht mit Easy Listening und halbgaren Reimen. Über einen verdienten Platz in der Obskuritätensammlung scheint in der Summe wenig drin zu sein, aber wie gesagt: München versteht man nicht – womöglich nicht einmal als Münchner.

Zukunft: auf Reisen?

Vielleicht wid das aber auch bald nicht mehr nötig sein. Es scheint, als bildeten sich irgendwo zwischen Internet und Intercity neue Allianzen jenseits aller alten Schulen heraus, die oberhalb der örtlichen Eingebundenheit auf den verschiedensten Ebenen funktionieren.

Zwischen Köln, Berlin, Düsseldorf, München und Hamburg kursiert bereits ein Thesenpapier zur „Neuen Unabhängigkeit“, das die interregionalen Aversionen beizulegen vorschlägt, bevor die letzte tolle Band von einem Major geschluckt wird.

Labels, die an solchem arbeiten, heißen Kitty Yo, Bands Kante (mit dem programmatischen Titel „Zwischen den Orten“) oder Couch oder Kreidler – alles überregionale Zusammenschlüsse. Fehlt nur noch, daß Patrick Wagner von Surrogat, Tocotronicer Dirk von Lowtzow und der Drummer von Kerosin demnächst eine Band aufmachen. Das werden Zeiten. Und es wurde ja auch Zeit.