■ Flutkatastrophe: Für das gesellschaftliche Klima zwischen Ost und West ist es gut, daß die Oder nicht in Bonn entspringt
: Nicht die Natur, der Staat ist schuld

Wenn in Singapur bei einem Hotelbrand 20 Menschen sterben, dann weiß man schon Stunden später: sämtliche Notausgänge verstellt. Wenn bei Marseille der Wald verbrennt, dann hat ein Grundstücksspekulant gezündelt oder eine fahrlässig entsorgte Zigarette. Und wenn das Rheinwasser in Kölner Kellern mit Öltanks und Konserven Roulette spielt, dann war die sträflich unökologische Kanalisierung des Flußlaufs schuld. Fast jede Katastrophe hat heutzutage ihre Urheber und ihre Erklärung. Das hat – bei aller Dramatik – auch eine beruhigend rationale Komponente.

Die Jahrtausendflut an der Oder hat nichts von all dem zu bieten: keinen Bösewicht, kein menschliches Versagen, keine Umweltsünde und keine Gewißheit, daß man nur die Ursache abstellen muß, damit so etwas nicht wieder passiert. Naturgewalt pur – für den Seelenhaushalt des modernen Menschen nur schwer verkraftbar. Vor der Übermacht der Natur kapitulieren zu müssen, das ist im Zeitalter der technischen Besiegbarkeit aller Tücken und der Rundumversicherung unseres Lebens unerträglicher denn je. Da sucht die Verzweiflung nach Ventilen zur psychischen Entlastung. Beim Jahrtausendhochwasser an der Oder kann sie nur die falschen finden. Je länger das Wasser sich drohend durch Felder und Dörfer schiebt, desto mehr weicht die anfänglich bewundernswerte Gelassenheit der Menschen nun der Verzweiflung und hilflosen Wut. Aber die zur Katastrophe geschwollene Natur läßt sich dafür nicht zur Verantwortung ziehen.

Bleiben nur diejenigen, die es nicht schafften, sie zu besiegen. Mancherorts hat die Suche nach Schuldigen längst begonnen. Und die Medien, der ewigen Sandsackbilder überdrüssig, spornen sie an. In den betroffenen Dörfern brauchen die Fernsehleute oft nur die Mikrofone hinzuhalten: Jahrzehntelang, so der Vorwurf, habe der Staat nichts gemacht an den Deichen – dabei haben sich die Oder- Dämme, trotz aller Brüche, als die stabilsten Mitteleuropas erwiesen. Mal haben die Katastrophenschützer viel zu früh evakuiert, mal viel zu spät gewarnt. Hier haben die Helfer unnötig Panik verbreitet, dort haben sie die Dorfbewohner beim Deichkampf schmählich im Stich gelassen. Ministerköpfe müssen rollen, wettern Oder-Anrainer. Keine Ortskenntnis hätten all die fremden Bundeswehrleute, schleppen die Säcke an falsche Stellen, „aber uns fragt ja keiner. Wir sind ja nur deren Kulis.“ „Wie Nazischergen“ hätten Polizeikräfte Evakuierungsunwillige von den Höfen geholt. Als „die wahren Helden des Oderbruchs“ bejubelt die Berliner Zeitung einige Dorfbewohner, die den amtlichen Evakuierungsaufforderungen trotzten.

Es ist ein merkwürdiges Stimmungsgemisch, das sich neben Verzweiflung und Resignation durch die Oder-Dörfer zieht. Da ist die Renitenz gegen staatliche Anweisungen, das macht manch unverständliche Sturheit sympathisch. Da ist die nachbarschaftliche Hilfe, die schafft ein lang vermißtes Zusammengehörigkeitsgefühl. Die Jüngeren erinnert es an DDR-Zeiten, die Älteren an den Krieg, beides ist offenbar in positiver Erinnerung geblieben. Da ist die Heimatverbundenheit, die plötzlich stärker ist, als manche bei sich selber vermuteten.

Doch in all dem schwingt auch ein Unterton mit, in dem sich einige am Oder-Ufer gegenseitig kräftig bestärken: es ist das kollektive Grundgefühl, schon immer von allen verlassen zu sein – auch wenn binnen Tagesfrist Tausende von Helfern aus allen Teilen Deutschlands an die Oder strömen. Man ist nicht nur Flutopfer, sondern auch ostdeutscher Bürger, vom Schicksal ungerecht behandelt und nun einmal mehr um alte Sicherheiten betrogen, vom Leben und auch von den staatlichen Institutionen. Vom alles organisierenden Staat hat man Schutz in allen Lebenslagen erwartet – das war jahrzehntelang so, und hat man etwa keinen Anspruch darauf? – Nun schafft der es nicht, die bedrohliche Brühe von den Häusern fernzuhalten. Da fühlt man sich auch von der Politik im Stich gelassen, selbst wenn rührige Landesminister rund um die Uhr im Einsatz sind und der Kanzler zweimal seinen Urlaub für einen „Beileidsbesuch“ unterbricht.

Ein Glück für das gesellschaftliche Klima zwischen Ost und West, daß die Oder nicht in Bonn entspringt und Brandenburgs Umweltminister Platzeck kein zugereister Rheinländer ist.

Skepsis gegenüber eiligen Hilfsversprechen ist angebracht, und auch das Bedürfnis nach Schuldsuche ist allzu verständlich. Nur berechtigt ist in diesem Fall beides nicht, denn die beispiellose Flut hat auch ein beispielloses Hilfsmanagement mobilisiert. Sicher, es hat Pannen gegeben und vor allem Kommunikationsprobleme mit den polnischen Nachbarn. Doch wohl nie zuvor wurde eine Katastrophe so präzise vorhergesagt und strategisch so perfekt bekämpft. Schon Tage, bevor das Wasser an die Deichkronen schwappte, haben die brandenburgischen Behörden gewarnt und alle Vorbereitungen getroffen. Da gingen Dorfbewohner, die Gefahr verdrängend, noch seelenruhig ihrem normalen Alltag nach. Der Katastrophenfall trat schließlich dort ein, wo die Experten ihn längst befürchtet hatten.

Innerhalb von Stunden wurden 15.000 Helfer mobilisiert. Material, Gerätschaften, Verpflegung, starke Arme wurden fast ohne Hektik und Chaos von unsichtbarer Regie an die Einsatzorte dirigiert. Eine Katastrophenlogistik wurde aufgebaut aus verschiedensten Organisationen. Die war nie zuvor durchgespielt worden, und doch hat sie – gemessen an der Dimension – bisher nahezu perfekt funktioniert. Wohl nie zuvor auch wurde eine Katastrophe von sozialen Begleitmaßnahmen so umfassend flankiert: Busse wurden bereitgestellt, Zelte errichtet, das Oder-Wasser auf mögliche Gifte geprüft, die Bevölkerung präventiv gegen Seuchen geimpft, Hilfsfonds eingerichtet, EU-Gelder bereitgestellt, ABM-Stellen für den Wiederaufbau versprochen, Versicherungsexperten bemüht. Den betroffenen Oder-Bewohnern mag das alles ein schwacher Trost sein. Aber den Experten, Helfern, Krisenmanagern und Politikern kann man den einen Vorwurf nicht machen, den Vorwurf, sie hätten nicht alles Menschenmögliche getan. Zum Menschenmöglichen gehört auch, manchmal Fehler zu begehen, unter Tausenden von Entscheidungen auch falsche zu treffen, bei tagelangen Einsätzen Ermüdung und verhängnisvolle Reibungsverluste in Kauf zu nehmen. Zum Menschenmöglichen gehört vor allem auch das eine: das „Naturmögliche“ nicht immer verhindern zu können. Vera Gaserow