Mariolino stirbt eigentlich jeden Tag

In Neapel soll Italiens Militär die Polizei im Kampf gegen die Camorra unterstützen – aber die Bosse scheren sich darum wenig, die Kämpfe und Morde gehen weiter, die Angst der Menschen bleibt  ■ Aus Neapel Werner Raith

Der Name Mariolino löst bei Maria Assunta einen Schwall von Tränen aus. „Se né andato“, schluchzt sie, „se né andato“: Was heißen kann, er ist abgehauen, aber auch, er ist tot. Für Maria Assunta ist das gleich: Sie hat ihren Sohn nicht mehr. Und sie ist überzeugt, daß sie ihn nie mehr lebend wiedersehen wird – „nur noch seine Leiche“, sagt sie, „ach, wenn ich wenigstens die umarmen könnte“.

Von Mariolino, 21, Schlosser von Beruf, fehlt seit einigen Tagen jede Spur. „Vielleicht ist er nur untergetaucht“, sagt Carabinieri- Feldwebel Bernardis, der mitunter zweimal am Tag vorbeischaut, ob die Familie etwas gehört hat. Doch selbst wenn dies der Fall wäre: Den Carabinieri würde man es zuletzt erzählen.

„Nie hat sich mein Junge etwas zuschulden kommen lassen“, schluchzt Maria Assunta, läßt sich von Amira, ihrer zweiten Tochter, die Tränen abtrocknen, und strafft dann ihren zusammengesunkenen Oberkörper einen Augenblick: „Der Zorn Gottes soll sie alle treffen!“ Die Carabinieri gehen fest davon aus, daß Mariolino bei einem Überfall auf eine Bar in Giuliano, einem der tristen Vororte Neapels, beteiligt war, bei dem es vor einem Vierteljahr mehrere Verletzte gegeben hat. Wenn das stimmt, müßte er entweder verrückt sein, denn dort herrscht einer der blutrünstigsten Camorra- Clans der Stadt – oder eben, was die Carabinieri vermuten, er müßte sich mit diesen Leuten eingelassen haben.

Wie es Mariolino gelungen ist, sich der Festnahme zu entziehen – „offenbar im letzten Augenblick“, wie der Polizeibericht feststellt – ist unklar. Möglicherweise hatte es eine Warnung gegeben. „Und wenn?“ fragt Mutter Maria Assunta, „hättet ihr euren Sohn nicht in Sicherheit gebracht, wenn er unschuldig verfolgt wird?“ Feldwebel Bernardi hebt die Augen zum Himmel. „Tja“, sagt er, „das ist schwer zu sagen.“ Doch an der Unschuld des Jungen, da hegt er Zweifel: „Wir haben Fingerabdrücke an einem Stuhl, die entsprechen denen, die von Mariolino beim Militär gemacht wurden“, sagt er. Doch die Mutter besteht darauf: „É innocente.“ Vorbestraft jedenfalls ist er nicht, das räumt auch der Feldwebel ein.

Unschuldig, innocente: eines der meistverwendeten Wörter in Italiens Süden, wo immer man auch hinkommt. Denn neben dem Bewußtsein, selbst nie etwas Unrechtes zu tun (was auch für alle Anverwandten gilt), sind die meisten Menschen hier auch fest überzeugt, alle anderen wollten ihnen Übel und insbesondere den sauberen Namen der Familie beflecken. Und so setzt man eben vorsichtshalber bei nahezu allen Namen der Lieben den Zusatz „innocente“ dahinter, ganz gleich, wovon man spricht.

Onkel Gennaro (innocente) zum Beispiel hat Probleme mit seiner Bäckerei, weil nahebei eine Konkurrenz aufgemacht hat. Vetter Antonio, bei der Stadt angestellt, wurde (obwohl „innocente“) bei einer Beförderung übergangen, und Tante Margherita liegt im Krankenhaus: Sie hat wohl Unterleibskrebs, obwohl sie nie jemandem etwas zuleide getan hat...

Trotz der Überzeugung von der Unschuld ihres Sprößlings geht Mutter Maria Assunta davon aus, daß ihr Sohn nie mehr wiederkommt. „Sonst hätte er sich doch irgendwie bei mir gemeldet. Ich bin doch seine Mamma.“ Sie ist nicht die einzige, die ein solches Drama durchleidet. Mehr als zweitausend neapolitanische Männer, so die Polizei, werden derzeit in der Stadt steckbrieflich gesucht, und sicher noch mal so viele werden von gegnerischen Clans gejagt, ohne daß die Polizei davon weiß. Tausende von Familien bangen um Söhne, Väter, Brüder, nachdem diese abgetaucht sind. „Viele von ihnen“, so der Feldwebel, „finden wir tatsächlich erst wieder, wenn es in irgendeiner Straße oder auf den Feldern im Hinterland eine Schießerei gegeben hat und der Gesuchte in einer Blutlache liegt.“

Daß die Polizei helfen könnte, Mariolino dieses Schicksal zu ersparen, glaubt natürlich niemand – Nachbarin Germana brennt geradezu darauf, den unumstößlichen Beweis für angebrachte Skepsis zu liefern: Ihr Sohn Andrea hatte sich abgesetzt, nachdem ihm eine Tabakschmugglerbande wegen unerlaubten Feilbietens von „Marlboro“ in ihrem Herrschaftsgebiet gedroht hatte. Als er bei einer Routinekontrolle auf der Autobahn seine Personalien angeben mußte, erzählte er den Polizisten seine Geschichte. Sie brachten ihn nach Hause, versprachen, mit dem Zuständigen ein Schutzprogramm auszuhandeln – doch drei Tage später war er tot, von zwei Männern auf einem Motorrad hinterrücks erschossen. „Polizeischutz braucht eben Zeit, haben mir die Leute vom Präsidium zum Trost gesagt“, weint die Mutter.

Ein entfernter Verwandter Maria Assuntas war mehr als drei Jahre unauffindbar – doch als er über seinen Rechtsanwalt Kontakt mit der Polizei aufnahm, wurde er innerhalb von vierundzwanzig Stunden in seinem Versteck bei Secondigliano erstochen.

Mutter Maria Assunta macht sich auf, hinunter zur Mole, wo ihr Mann Fische verkauft. „Heute ist Samstag, da kommen viele Leute und wollen frische Ware.“ Sie läuft einen Haufen Umwege – aber erst unten, nahe dem Zollbereich der Überseeliner, rückt sie mit der Sprache heraus: „Ich gehe immer durch die Straßen und Gassen, die Mariolino genommen hat, wenn er seine Freunde abklappern wollte.“ Doch auch diesmal ist am Ende nur Trauer in den Zügen Maria Assuntas.

Ihr Mann hebt die Augen im faltigen, tiefgebräunten Gesicht: „Wer weiß, vielleicht gibt uns der Ewige Vater ja unseren Jungen zurück“, sagt er, als er seine Frau sieht, noch bevor er grüßt. Dann weist er mit dem Kopf nach oben, zur großen Piazza: „Sie sind da.“ „Sie“ – das sind die von der Regierung zum Kampf gegen die Camorra abgeordneten Soldaten; Bersaglieri mit ihrem wehenden Federschmuck am Helm bewachen das Bürgermeisteramt und das Polizeipräsidium und andere öffentliche Gebäude. Noch gestern standen hier Polizeiautos: Sie sind jetzt abgezogen worden, das Militär entlastet sie von diesen „statischen“ Aufgaben, so daß sie sich wieder der Ermittlung und Fahndung widmen können: Immerhin zählt Neapel seit Jahresbeginn bereits weit über 80 Morde und gut zehntausend gefährliche Körperverletzungen.

Seit der oberste Boß der größten Camorra-Gang, Carmine Alfieri, verhaftet wurde und auszupacken begonnen hat, „herrscht reine Anarchie in unserer Stadt“, weiß Vater Eduardo: „Vorher gab es natürlich auch allerhand Verbrechen, aber man wußte wenigstens, wer da wo herrscht. Jetzt streiten sich zwanzig Gangs um eine einzige Straße, um ein halbes Stadtviertel. Keine Sau weiß mehr, an wen man bezahlen soll.“

Sechs Jahre Gefängnis hat Eduardo in seinen mittlerweile 55 Lebensjahren schon abgesessen, natürlich „innocente“, doch die Gerichte sahen auch ihn ab und an als Mitglied einer Schutzgeldbande. Damals hatte er sich unter das Patronat des legendären Raffael Cutolo gestellt, der in den 70er Jahren zeitweise mehr als 5.000 Camorristen um sich geschart und aus dem Gefängnis heraus kommandiert hatte. „Andere Zeiten“, sagt Eduardo, ohne die geringste Scham. „Damals war einem wenigstens klar, für wen man arbeitete. Heute kannste nicht mal mehr für dich selbst arbeiten.“

Einige Zeit, so der Vater, hatte es ausgesehen, als kehre auch in Neapel wenigstens etwas mehr Sicherheit ein: Der Bassolino – Neapels 1993 erster direkt gewählter Bürgermeister, ein Linksdemokrat – hat schon einigermaßen gegengesteuert. „Der hat zwar vielen die Arbeit genommen, weil er den Zigarettenschmuggel stark bekämpft hat, und davon lebt ja halb Neapel, aber viele Familien haben dafür auch die offizielle Lizenz für den Handel bekommen, Und er hat viele Polizisten in Zivil ausgeschickt, Straßenraub gab es fast gar nicht mehr, und viele Händler haben auch das Schutzgeld nicht mehr bezahlt.“ Dann schiebt er seine Mütze etwas zurück, kratzt sich am Kopf: „Weißt du, was ich glaube: Der Bassolino hatte sich mit einigen Bossen geeinigt, daß man Neapel wieder attraktiv macht, weil das ja auch Geld bringt. Aber jetzt haben sie den Alfieri-Clan zerlegt, und nun herrscht Chaos, weil die Stadtverwaltung ja keinen mehr hat, mit dem sie verhandeln soll.“

Natürlich sind das reine Spekulationen, doch sie zeigen, daß sogar Neapels nicht so ganz gesetzestreue Bürger nun den Staat zu Hilfe rufen wollen, weil ihre Stadt erneut unlebbar geworden ist: Daß das Militär einrückt, findet Eduardo absolut „gut, die sollen sich auch mal nützlich machen“.

Aber übermäßig beeindrucken läßt sich die Camorra durch die Anwesenheit der Soldaten nicht. Nur wenige Tage nach dem Einrücken der Bersaglieri geht das Töten munter weiter. Für Maria Assunta und Eduardo verdichtet sich nun alles zur Gewißheit. Am Abend, als der Vater gerade seine Einkünfte verstaut – der Tag war nicht schlecht, so an die vierzig, fünzig Kilo Seezungen, Spigole, Cefalu und Tintenfische aller Art hat er umgesetzt –, bringt Tochter Teresa ihre Mutter mit dem Scooter an den Hafen, total aufgelöst in Tränen: „Sie haben... Sie haben...“ Eduardo sieht aus, als wolle auch er zusammenbrechen – doch die Nachricht betrifft nicht ihren Mariolino: „Sie haben Tommaso gefunden... Tot... Tommasino...“ Vater Eduardo erbleicht noch mehr. Tommaso war so etwas wie ein Zonenboß, mit dem die Familie oft Kontakt hatte, eine Art Pate, trotz seiner erst 32 Jahre. „Jetzt ist auch unsere Hoffnung zu Ende“, flüstert Maria Assunta. Zu Hause entzündet sie vor dem Bild ihres Mariolino auf dem Kaminsims eine Kerze.

Doch am Tag danach schneit Feldwebel Bernardi ins Haus. „Ihr braucht keine Angst mehr zu haben“, sagt er, „Mariolino lebt. Er hat sich gestellt, nachdem die Nachricht vom Tod Tomassinos bekannt wurde.“ Maria Assunta hebt den Kopf, schaut den Carabiniere mit ihren rotgeränderten Augen an und fragt: „Mein unschuldiger Junge. Kann ich ihn noch ein letztes Mal sehen, bevor er begraben wird?“ Feldwebel Bernardi legt ihr den Arm auf die Schulter. „Er ist nicht tot“, sagt er, er muß ein wenig bei uns in der Zelle bleiben, aber du kannst ihn gleich besuchen.“ Mutter Maria Assunta blickt ihn dankbar an: „Wenigstens auf dem Totenbett...“ flüstert sie. Feldwebel Bernardi blickt zur Tochter und dann zu mir. „Ich habe das oft erlebt. Sie wird Monate brauchen, bis sie es glaubt. Der Tod ist in Neapel so nah, daß man leicht durcheinander kommt und nicht mehr weiß, ob man noch im Diesseits ist oder schon auf der anderen Seite.“