Belgrad holt zum Schlag gegen Muslime aus

■ Muslimführer verhaftet. In der Sandžak-Region herrscht Ausnahmezustand

Wien (taz) – Verhaftungen, Hausdurchsuchungen, Militärpräsenz. Seit gestern herrscht im Süden Serbiens, in der mehrheitlich von Muslimen bewohnten Sandžak-Region, der Ausnahmezustand. Das zumindest meldet der bosnische Rundfunk aus der Provinzhauptstadt Novi Pazar. Dieser Quelle zufolge wurde der Vorsitzende des Muslimischen Nationalkongresses, Sulejman Ugljanin, in der Nacht zu Mittwoch verhaftet.

Die Anklage werfe ihm „Aufstachelung zu separatistischen und terroristischen Handlungen“ vor. Um Demonstrationen im Keim zu ersticken, so behauptet Radio Sarajevo, seien serbische Polizei- und Armeeverbände in allen größeren Orten der Sandžak-Region in Stellung gegangen und kontrollierten den Verkehr auf den Überlandstraßen. Auch seien zeitweilig Telefonverbindungen unterbrochen und Sympathisanten des Muslimischen Nationalkongresses in Gewahrsam genommen worden. Obwohl noch keine unabhängigen Berichte vorliegen, spricht manches dafür, daß serbische Sicherheitsorgane eine großangelegte Verhaftungs- und Einschüchterungsaktion gegen die etwa 300.000 Sandžak-Muslime eingeleitet haben.

Die Zeitbombe tickte schon lange. Mit dem Auseinanderbrechen des Vielvölkerstaates Jugoslawien war auch bei den Sandžak-Muslimen das nationale Bewußtsein erwacht, der Ruf nach kultureller und politischer Autonomie lauter geworden. Doch anders als den 350.000 Ungarn in der Vojvodina und fast zwei Millionen Albanern im Kosovo hatten die jugoslawischen Kommunisten den serbischen Muslimen jegliche Form von Autonomie verwehrt.

Bei Kriegsausbruch in Bosnien waren auch die Sandžak-Muslime serbischem Terror ausgesetzt. Tausende flohen nach Zentralbosnien oder in die Türkei, unter ihnen auch ihr charismatischer Wortführer Ugljanin. In Istanbul gründete Ugljanin den Muslimischen Nationalkongreß, der mit radikalen Forderungen eine territoriale Vereinigung des Sandžak mit Bosnien forderte und zum „Verteidigungskampf aller Muslime“ im ehemaligen Jugoslawien aufrief.

Zum Erstaunen vieler reiste Ugljanin Anfang 1996 erneut in seine Heimat und setze in Novi Pazar seine politische Tätigkeit fort, wenngleich mit gemäßigteren Parolen für eine politische Autonomie innerhalb Restjugoslawiens. Damals wurde viel darüber spekuliert, ob Ugljanin mit dem Belgrader Regime einen Geheimpakt geschlossen habe, vor allem gegen die Kosovo-Albaner. Denn an den darauffolgenden Parlamentswahlen nahm der Muslimische Nationalkongreß teil, während Teile der serbischen Opposition, einige ungarische Parteien und alle kosovo- albanischen Verbände den Urnengang boykottierten. Bei den Gemeinderatswahlen vom vergangenen November schloß sich Ugljanin jedoch dem Belgrader Oppositionsbündnis Zajedno an, und die Sandžak-Muslime in Novi Pazar nahmen an dem wochenlangen Straßen-Happening der serbischen Oppositionsgruppen teil. Auch sie erzwangen, wie die Belgrader, eine neue lokale Verwaltung in den Gemeinden des Sandžak. Das Regime gab nach. Jetzt schlägt es zurück. Karl Gersuny

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