Abstürze, Abgründe

Eine Art südenglisches „Short Cuts“: William Trevors Roman „Die Kinder von Dynmouth“ zeichnet das Panorama einer braven Kleinstadt  ■ Von Jörg Magenau

Dynmouth könnte es wirklich geben. Kleine Orte wie diesen, die früher einmal von der Fischerei lebten und sich später zu hübschen Seebädern mit begrenztem Unterhaltungswert entwickelten, gibt es an der Küste von Dorset reichlich. Graue Steinhäuser, ein bescheidener Pier, drei Banken und fünf Kirchen, neun Hotels, elf Pubs und einen Fish-and-Chips-Laden: Dynmouth ist groß genug, um es dort einigermaßen auszuhalten. Immerhin besitzt es einen Sandstrand, eine Steilküste und ein Kino, und wer es zu nichts bringt, kann immer noch in der nahen Sandpapierfabrik arbeiten. Und es ist klein genug, daß die 4.139 Einwohner einander kennen und auf der Straße begrüßen.

So pedantisch wie ein inventarisierender Buchhalter beginnt William Trevor seinen Roman „Die Kinder von Dynmouth“. Wohlkalkuliert breitet er die Szenerie verschlafener Normalität und gediegener Langeweile aus, und schon sind wir, ohne es zu merken, mittendrin im Geschehen. Da steigt Commander Abigail, das aufgerollte Handtuch unterm Arm, zum Strand hinab. Da radelt Pfarrer Featherstone nach Hause, und Timothy Gegde, ein fünfzehnjähriger, seltsamer Junge, schleicht durch die Straßen und beobachtet das Treiben der Menschen. Er redet mit jedem, den er trifft, und hat die unangenehme Eigenschaft, steinalte, unwitzige Witze aus billigen Humorheftchen zum Besten zu geben: Warum fährt der Elefant nicht Fahrrad? Weil er keinen Daumen zum Klingeln hat. Niemand mag den aufdringlichen, penetrant freundlichen Kerl, der nur schwer wieder loszuwerden ist. Timothy ist so etwas wie das wandelnde schlechte Gewissen des Ortes. Er weiß über alle Leute Bescheid, er kennt ihre Schwächen und ihre Geheimnisse manchmal besser als sie selbst. Und wenn es darauf ankommt, macht er sich dieses Wissen auch zunutze.

Timothys Vater ist auf und davon. Die Mutter und die ältere Schwester sind entweder arbeiten oder wollen nicht gestört werden. So hockt er, wenn er nicht unterwegs ist, im abgedunkelten Wohnzimmer, schaut sich geschmacklose Fernsehshows an und träumt davon, ein berühmter Entertainer zu sein. Für den österlichen „Talentwettbewerb“ im Pfarrgarten hat er sich als erster angemeldet, um dort einen Sketch aufzuführen, in dem er nacheinander einen Frauenmörder und drei ermordete Frauen spielen will. Dazu braucht er allerdings einen Bühnenvorhang, eine Badewanne, ein Brautkleid und einen Herrenanzug. Und da die Besitzer dieser Utensilien sie nicht freiwillig herausrücken, hilft Timothy nach, indem er ihnen zu verstehen gibt, was er über sie weiß.

So bricht die Fassade der bürgerlichen Wohlanständigkeit, die Trevor anfangs so gründlich aufgerichtet hat, Stück für Stück in sich zusammen. Timothy in seiner unsympathischen Aufdringlichkeit ist der negative Held, der wie ein auf Unglück geeichter Spürhund alles verborgene Elend wittert. Mit der Sensibilität des Geprügelten findet er bei jedem den wunden Punkt und sieht immer nur das Schlechte, weil er selbst schlecht behandelt wurde. Doch wenn er seinen Vorteil sucht, scheint er dabei doch nur mit der Wahrheit zu operieren. Mrs. Abigail erfährt nach 36 vollkommen geschlechtsverkehrfreien Ehejahren erst durch Timothys Andeutungen, daß ihr Mann schwul ist. Die Familie Dass wird von ihm mit jener Nacht konfrontiert, als ihr Sohn nach einem Streit das Haus verließ und nie mehr wiederkehrte. Mr. Plant muß fürchten, seine Frau könne durch Timothy etwas von seinen zahlreichen Seitensprüngen erfahren. Und was geschah vor einigen Jahren in den Klippen der Steilküste, als die Mutter des kleinen Stephen tödlich abstürzte? Timothy, allzeit allgegenwärtig, behauptet, damals Zeuge eines Verbrechens gewesen zu sein.

Was zunächst als unverbundene Erzählstränge nebeneinander läuft, verbindet Trevor allmählich zu einem Ganzen. Aus den einzelnen Biographiebruchstücken entsteht ein kunstvolles Gesellschaftspanorama voller Querbezüge und Abgründe. „Die Kinder von Dynmouth“ erinnern darin ein wenig an Robert Altmans Film „Short Cuts“, der Roman ist allerdings viel früher geschrieben, im englischen Original bereits 1976 erschienen. Doch nach dem Erfolg, den Trevor mit „Felicias Reise“ (1995) und mit „Mein Haus in Umbrien“ (1996) endlich auch in Deutschland erzielte, legt der Verlag nun diesen frühen Text nach. Auf die deutsche Ausgabe der Erzählungen, die im englischsprachigen Raum Trevors einen großen Teil seines Ruhms ausmachen, müssen wir weiter warten.

Trevor, 1928 in Irland geboren und in England lebend, ist in seiner nüchternen, präzisen Schreibweise, im traditionalistischen Operieren mit einem allwissenden Erzähler und in seinem Interesse am Psychogrammatischen am ehesten mit dem amerikanischen Realisten John Cheever zu vergleichen. Beiden geht es darum, Verdrängtes sichtbar zu machen und die Schutzschilder bürgerlicher Konventionalität zu demontieren, aber so, daß sie nur einen kurzen Blick dahinter gewähren, bevor alles wieder an seinen angestammten Platz rückt. Ohne die Übereinkunft des Schweigens ließe sich in der Enge der Kleinstadt nicht überleben. Also werden die Geheimnisse wieder in Truhen verstaut, die Leichen in die Keller geräumt: Die Ordnung bleibt stabil. Und doch wissen die Bewohner von Dynmouth nun, wie tief sie fallen können und wie dünn der Schleier ist, der ihre Realität verschönt. Ihre Welt ist unverändert, aber sie sind nicht mehr dieselben.

Und Timothy? Er wird weiter die Menschen mit seinen Witzen belästigen. Wahrscheinlich wird er später einmal in der Sandpapierfabrik arbeiten oder im Knast enden. Der Erzähler überläßt ihn seinem einsamen Schicksal, so wie ihn die Gesellschaft alleine läßt. Timothy ist die tragischste Figur von allen. Man kann kein Mitleid mit ihm haben.

William Trevor: „Die Kinder von Dynmouth“. Roman. Aus dem Englischen von Thomas Gunkel. Rotbuch Verlag, Hamburg 1997, 255 Seiten, 38 DM