20 Jahre "Deutscher Herbst": RAF-Mitglieder sitzen noch immer in Gefängnissen, eine Reihe damals erlassener Gesetze blieb bis heute in Kraft. Bundesjustizminister Schmidt-Jortzig über die Rolle des Staates und die Chancen für Veränderung

taz: Herr Schmidt-Jortzig, erinnern Sie sich noch an den 5. September 1977, als die RAF den Arbeitgeberpräsidenten Schleyer entführte?

Edzard Schmidt-Jortzig: Nur noch dunkel. Das Jahr 1977 ist mir allerdings insgesamt sehr wohl präsent. Vor allem, was sich an meiner damaligen Wirkungsstätte, der Universität Göttingen, ereignete: die klammheimliche Freude des Mescalero-Aufrufes und die Auseinandersetzung darum.

Haben Sie damals die Motivation des Mescalero, die Beweggründe der Sympathisanten verstanden?

Ich verbinde mit dieser Zeit vor allem die Unruhen an der Universität, die Sprengung von Vorlesungen, die starke Polizeipräsenz bei der Räumung der Asta-Räume und die Demonstrationen in der Stadt. Für mich spielten die Spontis keine große Rolle. Ich konnte mich auch in deren Sicht der Dinge wenig hineinversetzen.

Heinrich Böll brachte die Auseinandersetzung um die RAF auf das Bild der sechs gegen sechzig Millionen.

Eine abgehobene Betrachtungsweise. Es war doch gar nicht ausgemacht, ob es sechs, zehn waren oder nicht viel mehr hätten sein können. Es war nicht klar, ob es sich nicht zu einer Bedrohung für den Staat hätte auswachsen können. Die Brutalität und Rücksichtslosigkeit, mit der die Öffentlichkeit konfrontiert wurde, war doch eine neue Qualität. Da noch von sechs gegen sechzig Millionen zu reden war falsch.

Sind Ihnen als Verfassungsrechtler während und nach der Schleyer-Entführung Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des staatlichen Handelns gekommen?

Ich gehe davon aus, daß die Bundesregierung eine verfassungsrechtliche Prüfung ihres Tuns bestanden hätte.

Wäre es für Sie denkbar gewesen, Andreas Baader zu verteidigen?

Für mich wäre Voraussetzung gewesen, daß ich von seiner Unschuld überzeugt bin oder von seiner Rechtlosigkeit oder Hilfsbedürftigkeit in rechtlichen Belangen ausgehen muß. Hätte ich den Eindruck gehabt, hier werden jemandem verbriefte Rechte verwehrt, wäre es eine Überlegung gewesen. Aber soweit ich mich erinnere, hatte Herr Baader sehr bewanderte Rechtsbeistände. Ich hatte immer den Eindruck, daß manche der Verteidiger sich in diesen Verfahren gar selbst politisch verwirklichen.

Einer derjenigen, die sich politisch verwirklichten, ist der hessische Justizminister Rupert von Plottnitz. Er kommt zu dem Schluß, daß große Teile der Politik gegen eine wirksame Verteidigung waren.

Es sind Rechte eingeschränkt worden, weil man davon ausging, daß auch von den Inhaftierten immer noch große Gefahren drohen. Daß dem nicht so war, ist eine Erkenntnis, die sich erst viel später durchgesetzt hat.

Schauen wir uns diese Einschränkungen an: Verbot der Mehrfachverteidigung, Überwachung der Verteidigergespräche, Verhandlung in Abwesenheit des Angeklagten, Trennscheibe, Kontaktsperre. Das dient nicht gerade dem Schutz des Bürgers gegenüber dem Staat.

Das ist richtig. Aber es dient dem Schutz des Staates. Es ist doch erwiesen, daß Anwälte in Einzelfällen ihre Kontakte benutzt haben, um die Kommunikation zur Planung weiterer Straftaten aufrechtzuerhalten. Daß der Verdacht also real war und infolgedessen der Staat so reagieren durfte, steht für mich außer Frage. Das war damals eine außerordentliche Bedrohung, in der sich die Bundesrepublik sah.

„Manches wird durchgedrückt, weil es aus einer übergeordneten politischen Sicht für absolut notwendig gehalten wird, ohne daß man Nebeneffekte mit bedenkt.“ Das haben Sie zwar in einem etwas anderen Zusammenhang gesagt, das trifft aber auch auf diese Maßnahmen zu.

Unter Berücksichtigung der damaligen Lage würde ich das nicht behaupten.

War es verhältnismäßig, die Gefangenen in Stammheim über sieben Wochen einer Kontaktsperre zu unterwerfen?

Unter den damaligen Annahmen: ja. Ich habe Verständnis dafür, daß versucht wurde, alle Kanäle nach draußen zu unterbinden. Heute sind solche Dinge natürlich nicht denkbar. Wir dürfen nicht mit unserer heutigen abgeklärten Sicht über die Dinge von damals ein Urteil fällen. Das wäre zudem reichlich unhistorisch.

Warum gibt es das Kontaktsperre-Gesetz dann noch?

Es gibt in dieser dicht normierten Gesellschaft dutzendfach Vorschriften, die praktisch nicht mehr angewendet werden. Es sind viel zu viele Gesetze, die nicht mehr sinnvoll sind. Auch das Kontaktsperre-Gesetz ist eines, das auf absehbare Zeit keine Relevanz mehr haben wird. Wäre man puritanisch, müßte man diese Gesetze alle aufheben. Würde ich mal einen entsprechenden Arbeitsauftrag erteilen, schätze ich, daß an die hundert Gesetzesruinen zusammengetragen würden.

Sie haben mal vorgeschlagen, Gesetze mit einem Verfallsdatum zu versehen. Welche der oben aufgelisteten Maßnahmen hätte denn das Verfallsdatum schon überschritten?

Das Kontaktsperre-Gesetz ist nicht mehr nötig.

...und Verteidigerausschluß und Verbot der Mehrfachverteidigung?

...darüber ließe sich reden.

...und die Trennscheibe?

Das möcht ich der Einzelfallüberlegung des Haftrichters überlassen.

Ein Großteil der damaligen Gesetze kann also weg.

Es ist dies realistischerweise kein Feld, auf dem es sich lohnt, ein großartiges Kämpfen anzufangen.

Mit wem hätten Sie denn zu kämpfen?

Man kann sich gut vorstellen, daß die ganz grundsätzlichen Emotionen an diesem Punkt hochgehen, obgleich er nach meiner Ansicht eher unbedeutend ist. Da läßt sich doch leicht mit großer emotionaler Absolutheit aufeinander einschlagen. Ich werde einen Teufel tun und nur „l'art pour l'art“ eine nicht erforderliche Auseinandersetzung führen.

Die Gesetze bestehen also weniger, weil sie rechtlich notwendig sind ...

Richtig, nicht mehr.

...sondern weil sie politisch- symbolisch beladen sind.

Man muß auf ihre Aufhebung nicht das ganze Augenmerk richten. Sie schaden nicht.

Sie schaden dem Ansehen des liberalen Rechtsstaates.

Wieso denn? Sie zeigen, wie sich der liberale Rechtsstaat auch zu wehren weiß. Und im übrigen: Wenn es um die theoretische Verletzung rechtspolitischer Prinzipien gehen soll, könnte ich Ihnen Hunderte von Beispielen nennen, die in der Praxis eben keine Beschädigungen darstellen.

Ihre Vorgängerin, Frau Leutheusser-Schnarrenberger, hat sich zum Beispiel gegen die Kronzeugenregelung gewandt.

Die Kronzeugenregelung habe ich immer anders gesehen. Wir werden hoffentlich nicht wieder in die Situation kommen, sie im Bereich terroristischer Gewalttaten einzusetzen, aber auch bei der organisierten Kriminalität kann ich mir eine Anwendung gut vorstellen.

Die Kronzeugenregelung gilt unter Experten als gescheitert. Warum soll sie jetzt auf den Bereich des organisierten Verbrechens übertragen werden?

Ich halte die Kronzeugenregelung für eine grundsätzlich sinnvolle Möglichkeit, bei schwersten Verbrechen – ob nun im Bereich des Terrorismus oder der organisierten Kriminalität – zu Ermittlungserfolgen zu kommen.

Der frühere Regierungssprecher Klaus Bölling spricht rückblickend davon, daß auch der Staat in der Terrorismusbekämpfung überreagiert hat. Wäre es nach zwei Jahrzehnten nicht an der Zeit, diese Überreaktionen zu korrigieren?

Korrekturen werden doch vorgenommen. Nehmen Sie nur die „Kinkel-Initiative“. Die verurteilten Täter der RAF werden heute wie ganz normale Täter behandelt. Wir haben längst auch eine sehr verfeinerte und deeskalierende Rechtsprechung. Ich denke, daß wir als Bundesrepublik aus jener ganz singulären Herausforderung und Gefährdung vom Herbst 1977 einigermaßen gelernt haben. Daß die Aufgeregtheiten von damals sich im nachhinein als übertrieben herausgestellt haben, muß uns natürlich zu denken geben.

Es hat doch mindestens 15 Jahre gedauert, bis so etwas wie ein normaler Maßstab bei den Gefangenen aus der RAF angelegt wurde. Wurde durch das Beharren der Strafverfolgungsbehörden die Auseinandersetzung zwischen Staat und RAF künstlich verlängert? Hätte eine Zusammenlegung der RAF-Gefangenen, wie sie im letzten Hungerstreik 1989 gefordert wurde, nicht zu einem schnelleren Ende des bewaffneten Kampfes geführt?

Das kann ich mir schon vorstellen. Wenn ich es richtig sehe, waren diese Überlegungen der Ausgangspunkt der Kinkel-Initiative – also Überlegungen etwa, wie die Solidarisierungseffekte mit den Gefangenen durchbrochen werden können. Die eine oder andere Konsequenz hätte sich vielleicht das ein oder andere Jahr früher ziehen lassen. Es bleibt aber Spekulation, ob das etwas gebracht hätte. Man ist da in Teufelskreise geraten, die jedenfalls nicht von staatlicher Seite gestoppt wurden. Wir haben einen Lernprozeß, einen Klärungsprozeß durchlaufen. Möglicherweise brauchte es die 15 Jahre, um den Umdenkungsprozeß zu bewerkstelligen. Ich bin weit davon entfernt zu glauben, daß wir gegen Überreaktionen in der Zukunft grundsätzlich gefeit sind. Aber wir zeigen uns heute schon ein wenig besser gewappnet.

Ist es jetzt, nach dem erklärten Ende des bewaffneten Kampfs, an der Zeit, denjenigen, die sich in der Illegalität befinden, einen Weg zurück in die Gesellschaft anzubieten?

Zunächst, aus der Sicht des Menschen und Christen, ist jedes solche Gespräch notwendig. Es muß gesucht und geführt werden. Dabei bin ich allerdings dagegen, Tötungsdelikte anders – im guten wie im schlechten Sinne – zu beurteilen, nur weil sie aus einer bestimmten Motivation oder Vorsätzlichkeit heraus begangen wurden.

Eine ganze Reihe der Gefangenen sitzt nun seit mehr als 15 Jahren. Zeit, sich über eine Haftentlassung Gedanken zu machen.

Solche Überlegungen, wie sie auch bei jedem anderen Gefangenen angestellt werden, sind absolut berechtigt. Bisher hat es in diesem Bereich immerhin 29 vorzeitige Haftentlassungen gegeben.

Hat Ihr Hause denn Anhaltspunkte dafür, daß die Inhaftierten nach einer vorzeitigen Haftentlassung straffällig werden könnten?

Das kann ich weder bejahen noch verneinen. Die Frage wird sich nur einzeln stellen, nämlich dann, wenn konkret die Prüfung einer vorzeitigen Haftentlassung ansteht.

In den Fällen, in denen ein Gericht gegen eine vorzeitige Entlassung votiert, bleibt als Alternative eine Begnadigung durch den Bundespräsidenten. Halten Sie diesen Weg für gangbar?

Ich werde es natürlich vermeiden, dem Bundespräsidenten über die Medien hierzu Empfehlungen zu geben. Das wäre alles andere als hilfreich.

In Italien wird über eine Amnestie für Mitglieder der bewaffneten Gruppen nachgedacht. Sind solche Überlegungen auf die Bundesrepublik übertragbar?

Für mich kommen solche Überlegungen nicht in Frage, weil es an dem Unrechtsgehalt der Straftaten überhaupt nichts zu zweifeln gibt. Die Tötung eines Menschen ist, unabhängig vom Motiv, gleich strafwürdig. Interview: Dieter Rulff