Der Realist und der Phantast

Nach dem 1:1 des Aufsteigers Hertha BSC gegen Europas Champion Borussia Dortmund sehen die Berliner zuversichtlich in die Zukunft  ■ Aus Berlin Matti Lieske

Wie gräßlich es für eine Spitzenmannschaft der Bundesliga ist, gleich das erste Spiel der neuen Saison zu verlieren, konnte man am letzten Freitag dem Gesicht von Leverkusens Coach Christoph Daum ansehen. Borussia Dortmunds neuer Trainer Nevio Scala kann erstens nicht so zerknirscht dreinschauen wie Daum, und zweitens sah er nach dem 1:1 bei Hertha BSC auch keinen Grund dazu. Dies liegt möglicherweise daran, daß sich der Italiener noch nicht ganz an die Verhältnisse in Deutschland gewöhnt hat. In der Serie A mag es in Ordnung sein, einen Punkt bei einem Aufsteiger zu ergattern, in der Bundesliga sollte man, wenn man Meister werden will, solche Partien gegen weitgehend harmlose Gegner eigentlich gewinnen.

Jürgen Röber weiß das genau, und dementsprechend zufrieden war auch die Miene des Hertha- Coachs. Eine Niederlage zum Auftakt im Olympiastadion vor 76.000 erwartungsfrohen Menschen wäre einer Katastrophe gleichgekommen. Danach vielleicht am Mittwoch noch ein Mißerfolg in Kaiserslautern, und die Zuschauerzahl beim zweiten Heimspiel am kommenden Sonntag gegen Borussia Mönchengladbach hätte sich locker halbiert. Genau solch einen unglücklichen Start hatte Hertha in der Bundesliga-Saison 1990/91 erwischt, am Ende stand der Abstieg, und zum letzten Match im Olympiastadion kamen gerade noch 8.000 Menschen – gegen Borussia Dortmund, pikanterweise.

Berliner Alpträume von einer ähnlichen Entwicklung sind erst mal gebannt, und die spielerisch ansprechende Leistung der zweiten Halbzeit läßt auf eine erfolgreichere Zukunft hoffen als beim letzten Erstliga-Gastspiel. Zunächst einmal mußte das Publikum nach sechsjähriger Abstinenz jedoch die Erfahrung machen, daß die durchschnittliche Bundesligapartie nicht viel packender verläuft als ein x-beliebiges Zweitligatreffen. Ein Phänomen, das leicht in Vergessenheit gerät, wenn man nicht mittun darf und die Sache nur in mundgerechten Fernsehhäppchen serviert bekommt.

Die Dortmunder waren von vornherein nicht sonderlich erpicht darauf, das Match um jeden Preis zu gewinnen. Sie schoben sich hinten geruhsam den Ball zu, dominierten im Mittelfeld, verfügten aber ohne den verletzten Paulo Sousa über niemanden, der in der Lage war, das Spiel mit überraschenden Pässen plötzlich schnell zu machen. Möller vollführte eine Art Alibifußball, nur Sammer tobte ab und zu nach vorn, und Kohler versuchte, den Bonus als neugewählter Klopper des Jahres zum Elfmeterschinden einzusetzen. Ansonsten vertraute das Scala-Team darauf, daß irgendein Freistoß, Eckball oder sonstiger Zufall irgendwann schon ein Tor bringen würde. Und so geschah es. Ein abgefälschter Ricken-Schuß nach schöner Kombination in der 26. Minute: 1:0 für den BVB.

Dumm nur, daß der Zufall nicht wählerisch ist und auch den Herthanern ungeniert zu Hilfe kam. Einen Schuß des besten Berliners Ante Covic lenkte dessen Mannschaftskollege Veit, der sich vergeblich mühte, der Flugbahn des Balles zu entweichen, ins Tor von Stefan Klos ab. „Wir haben nicht agiert, sondern nur reagiert und viel zuviel Respekt gehabt“, kommentierte Realist Röber die erste Halbzeit. Nevio Scala sagte: „Die Mannschaft hat mir 45 wunderschöne Minuten geschenkt.“ Der Mann ist entweder sehr bescheiden oder ein ausgemachter Phantast.

Bezüglich der zweiten Halbzeit, in der Sammer den Dortmundern wegen einer Knieverletzung fehlte, vermochte selbst der überschwengliche Italiener nichts mehr zu beschönigen. „Wir waren müde“, räumte Scala ein, „vielleicht zu viel Arbeit.“ Das müsse man analysieren, er hoffe aber, daß „wir in Zukunft auch in der zweiten Halbzeit spielen.“ Auf der anderen Seite hatten die Herthaner ihre Ehrfurcht vor der besten Mannschaft Europas, wie man den Champions-League-Sieger wohl nennen muß, abgelegt, bewegten sich besser und bestimmten nun das Spiel im Mittelfeld. Was fehlte, war der finale Paß in die Spitze, den auch Covic, der die Dortmunder Abwehrspieler manches Mal gleich reihenweise aussteigen ließ, nicht zustande brachte. Hinzu kam, daß die designierten Leistungsträger Bryan Roy und Kjetil Rekdal – beide wurden nach einer Stunde ausgewechselt – längst nicht in Bestform sind und der Kameruner Stürmer Alphonse Tchami noch die Ersatzbank drückt. In der letzten halben Stunde stand trotz der vielen Berliner Neuzugänge praktisch jene Mannschaft auf dem Platz, die in der letzten Saison den Aufstieg schaffte, und die war nicht in der Lage, Dortmund in ernsthafte Schwierigkeiten zu bringen.

Am Ende der fast torszenenfreien Partie herrschte eine Art ernüchtertes Wohlgefallen bei Publikum und beiden Teams. „Wir haben gezeigt“, verkündete Röber mit dem Stolz des erfolgreichen Emporkömmlings, „daß wir Fußball spielen können.“ Bei den Dortmundern hat das nie jemand bezweifelt, nur gezeigt haben sie es nicht. Vielleicht liegt das an einer mangelnden Definition der Ziele. „Ich habe noch nicht beschlossen, was wir in diesem Jahr gewinnen wollen“, sagte Nevio Scala geheimnisvoll in Berlin. Das Spiel bei Hertha BSC jedenfalls nicht.

Borussia Dortmund: Klos – Kohler, Sammer (45. Kree), Feiersinger – Reuter, Lambert, Möller, Ricken, Heinrich (88. Reinhard) – Herrlich, Chapuisat (67. Booth)

Zuschauer: 75.737; Tore: 0:1 Ricken (26.), 1:1 Covic (35.)

Hertha BSC: Fiedler – Herzog, Karl, Sverrisson – Covic, Veit, Rekdal (61. Andreas Schmidt), Dinzey, Hartmann – Roy (61. Preetz), Kruse (83. Arnold)