Der Clown hat den Blues

Einfach weiterrennen: Wie Ato Boldon seine Niederlage im Finale über 100 Meter gegen den Trainingspartner Maurice Greene verkraftet  ■ Aus Athen Peter Unfried

Wenn alles vorbei ist, dann macht sich auch die Emotion davon. Hat er selbst so gesagt. Zurück bleibt: Ato Boldon, irgendwie verändert. Plötzlich kein „Clown prince“ (The Guardian) mehr. Er hat den Blues, und es steht ihm gut. Die Gesichtszüge sind nicht mehr hart und aggressiv wie die Tage zuvor. Ein richtig angenehmer, freundlicher junger Mann ist das.

„Was man vorher gesehen hat“, sagt er, „war die Emotion.“ Der Aufbau eines Spannungsbogens bis zum großen Höhepunkt: die überlegenen Siege in allen Vorläufen, die aggressiven Reaktionen danach, die immer und immer wieder herausgeschleuderten Worte: Sieg, Weltrekord, ich, Ato Boldon.

Als es vorbei war, saß er in einer Ecke des Raumes, am Boden. Hörte still zu, wie der neue 100- Meter-Weltmeister den Herrn pries. Sein Trainer hatte ihn reingeschickt. „Ein Champion“, sagt John Smith, „gewinnt nicht jedesmal, aber er kommt immer wie ein Champion daher.“ Smith (46), Trainer an der UCLA in Los Angeles und immer noch Weltrekordler über 440 Yards, hat einige Sieger gemacht – und nun hat er auch einen Sprint-Weltmeister, Boldons Trainingspartner Maurice Greene (23). Den ließ er allein feiern. „Ich ging zu dem Mann, der hätte gewinnen müssen und nicht gewann“, sagte er, „der brauchte mich.“

Was nicht heißen soll, daß der Falsche gewann. Der Generationswechsel ist da. Es gewann nur nicht jener neue Mann, auf den alles hinauslief. Boldon war mit der besten Zeit (9,89 Sekunden) gekommen, hatte die im Zwischenlauf noch gesteigert (9,87) und schien auf Weltrekordkurs. Dann kam er vor dem Finale in den Aufwärmraum und sagte zu Greene: „O Gott, Maurice! Ich habe Krämpfe im Oberschenkel.“ Greene spürte gleich auch was, lief aber dennoch ein Rennen, dessen technische Perfektion die Experten verzückte. Olympiasieger Donovan Bailey (29) lief mit 9,91 Sekunden seine schnellste Zeit des Jahres – und war doch chancenlos gegen Greenes persönliche und Weltjahresbestzeit (9,86).

Im Camp von John Smith weiß man alles über Bailey. Seinen Weltrekordlauf (9,84 sec) hat man tausendmal angeschaut und auf Mikroebene analysiert. Smith glaubt nämlich nicht an ein Ende des Fortschritts. Biomechanik, Physiologie, Psychologie, überall sieht er die Möglichkeiten längst nicht ausgereizt. Seine Gruppe umfaßt etwa zehn AthletInnen, allesamt Läufer über 100 bis 400 Meter. Alle sind sie angetrieben von Smiths US-amerikanischem Grundbedürfnis: dem Verschieben der „frontier“ nach Westen.

So haben sich auch Vater und Sohn Greene letzten September zu Hause in Kansas City in den Wagen gesetzt und sind zwei Tage durchgefahren, bis sie in Los Angeles waren. Nichts ging mehr, beim alten Trainer Al Hobson. Am 28. September begann Smith die Arbeit an ihm. „Keep pushing“, nennt der Mann das, „um zu beweisen, daß Menschen immer schneller rennen können.“ Nicht nur der religiöse neue Weltmeister motiviert sich durch den Glauben an eine heilige und vor allem saubere Sache. Smith, fühlt sich sein Schüler Drummond ungefragt verpflichtet zu sagen, sei „ein drug-free coach“. Drummond ist Smiths dritter Weltklassesprinter – in Athen aber nur für die US-Staffel qualifiziert. Alles, sagt der, passiere „über dem Tisch“.

Also: Der tägliche Konkurrenzkampf auf der Bahn, von Smith mal gesteigert, mal gedämpft, macht ihnen Beine. Sie treiben sich gegenseitig an. Wer glaubt, Greene sei ein großer Redner vor dem Herrn, muß erst einmal die anderen erleben. Sagt Boldon: „He, Maurice, wir machen in Athen Platz eins und zwei.“ Antwortet Greene: „Dann paß bloß auf, daß keiner zwischen mir und dir einläuft.“ So geht das den ganzen Tag. Der Einlauf mag knapp sein, aber die Weltrangliste im „trash-talking“ (Jury: Drummond) ist im übrigen unverändert: 3. Greene, 2. Drummond, 1. Boldon.

Warum gewann nun Greene – und nicht Boldon? Greene kommt aus dem Mittleren Westen, der mußte, sagt Smith, „durch den Schnee stapfen, um zum Training zu kommen“. Das hat ihn hart gemacht. Boldon kommt von der Karibikinsel Trinidad. Er ist „easy- going“. Schon in Göteborg war er über 200 Meter mit plötzlichen Krämpfen ausgestiegen. Bei Olympia kündigte er Weltrekord und Sieg an und schaffte zweimal Bronze, weil er die absolute Leistung nicht brachte, als es galt. Der Verdacht liegt nahe: Der Mann, der am härtesten die Siegermentalität inszeniert, hat sie nicht. „Wenn ich ein Außenstehender wäre“, sagt hierzu befragt Boldon, „würde ich auch sagen: Ato Boldon hat es wieder nicht geschafft.“

Aber wie Smith so schön sagt: „Manchmal führt die Straße, auf der du reist, nicht geradeaus.“ So eine Reise ist beschwerlich, aber falls einer dann doch noch ankommt, „wird es ein süßer Moment sein“. Am Mittwoch beginnen die Vorläufe über die 200 Meter. Weltrekordler Michael Johnson fehlt. Wer hat gleich wieder die vier schnellsten Zeiten des Jahres gelaufen und längst verkündet, er werde gewinnen?

„Was kann ich anderes tun“, sagt Ato Boldon bescheiden, „als weiter zu laufen?“ Sein Gesicht ist friedlich und weich. Aber man darf sich nicht täuschen lassen. Morgen wird er anders aussehen. Und ganz anders reden. Wenn alles neu beginnt, dann kommt auch die Emotion zurück.