Gewissen und Geldbeutel

■ Die Oderflut und die Epidemie der guten Taten

Max Schmeling tut es, der FC Bayern München tut es, Jan Ullrich tut es, Sabine Christiansen und Ron Sommer tun es und Daimler-Benz sowieso. Der Pegelstand der Spendengelder für die Oder-Opfer wächst rasant. Muttis knapsen vom Haushaltsgeld ab, Kegelclubs schlachten ihr Sparschwein, und selbst die Bundesligasendung „ran“, letztes Reservoir für die von allen politischen Fährnissen verschonte heile Welt von Fallrückziehern und Muskelfaserrissen, wird vom Hochwasser überspült. Deutschland sammelt, ein einig Volk der großen Herzen. Wie kann so was passieren, mitten im trägen Sommer 1997? Was hat aus einer Nation der sozialen Kälte über Nacht ein Heer der Barmherzigen gemacht? Da ist zunächst das Sommerloch der Medien mit der täglichen Frontberichterstattung. Da ist die immer wieder geschürte Angst, ob der Deich weich wird oder hält. Da sind die beeindruckenden Bilder von abgesoffenen Häusern, von sich irre im Kreis drehenden Kuhherden, denen das Wasser bis zum Halse steht, vom Bambi in der Oderflut. Die Macht der Bilder.

Es gibt sicherlich auch ein Hilfe-Virus, eine Epidemie der guten Taten. Hilfsbereitschaft steckt an, vor allem wenn sie steuerlich absetzbar, gesellschaftlich positiv besetzt und für die Firmen mit einem Imagegewinn verbunden ist. Das gilt auch für die Bundeswehr, die ihr ramponiertes Ansehen Sandsack für Sandsack liftet.

Doch die tiefere Ursache für die Spendenwut der Deutschen ist etwas anderes: ihr schlechtes Gewissen gegenüber dem Osten! Wir haben sie abgewickelt, verspottet und mit Gewalt auf Westniveau getrimmt. Wir wollen sogar den Solidaritätszuschlag abschaffen. Da wird es hohe Zeit, endlich freiwillig Solidarität zu zeigen. Den Brüdern und Schwestern zu demonstrieren, daß der gemeine Wessi doch nicht so schäbig ist. Man darf die eigenen Zweifel an der wiedervereinigten Nation mit Hundert-Mark-Scheinen wegspülen. So erfüllt sich denn die deutsche Einheit im Oderbruch zwischen Sandsäcken und Spendenkonten. Hier endlich geht der Herzogsche Ruck durch die Deutschen. Man darf sich selbst und allen anderen beweisen, daß man ja doch zusammengehört.

So hat das Hochwasser ein unverhofftes Happy-End. So wird das Oderbruch zum Auffangbecken deutschen Unbehagens. Manfred Kriener