Verfolgt, gequält, trotzdem geblieben

Arbeiterkind, Widerstandskämpfer und Jude: Rudi Neumann wird morgen 90  ■ Von Wilfried Weinke

Das Foto ist beschädigt. Kinderhand hat das als unwesentlich Empfundene abgeschnitten. Das Wichtigste jedoch bleibt weiterhin zu sehen: Auf einer Schiene steht eine Lore, auf die Steine getürmt sind. Hinter der Lore stehen drei Männer, einer von ihnen hat seine Arme in die Hüften gestemmt, seine Hemdsärmel sind hochgekrempelt: Rudolf Neumann.

Hemdsärmelig, so ist der von Freunden nur liebevoll „Rudi“genannte Rudolf Neumann. Seine muskulösen Arme bezeugen, daß er zupacken kann, oft genug mußte. Wie auf dem Foto, das ihn bei der Pflichtarbeit auf dem Friedhof an der Rentzelstraße zeigt. Das war im Mai 1937, als die Stadt Hamburg die damalige „Deutsch-Israelitische Gemeinschaft“zwang, den Grindelhof, „von den Gräbern ordnungsmäßig geräumt“, der Finanzverwaltung zu übergeben.

Rudolf Neumann, am 7. August 1907 in Hamburg geboren, ist Jude. Sein familiärer Hintergrund ist nicht der einer Bankiers-, Reeder- oder Rabbinerfamilie. Rudi stammt aus der Arbeiterschaft. Sein Vater war Maurer.

Nach dem Besuch der Talmud-Tora-Schule lernte Rudi Elektriker. Angesichts der Wahlerfolge der NSDAP und des alltäglichen Antisemitismus engagierte er sich politisch in der „Jugend-Gemeinschaft jüdischer Arbeitnehmer“. Hier lernte er auch Flora Andrade kennen. Das junge Paar heiratete 1931 in der Bornplatz-Synagoge.

Nach der Machtübertragung an die Nationalsozialisten beteiligte sich Rudi am antifaschistischen Widerstand. Sehr bald erfolgte die erste Verhaftung und eine achtmonatige sogenannte „Schutzhaft“. Nach der Haftentlasssung arbeitete er als Kurier in einer oppositionellen Widerstandsgruppe im Stadtteil Sternschanze. Im Oktober 1934 wurde er erneut verhaftet und wegen „Vorbereitung zum Hochverrat“zu einem Jahr Gefängnis verurteilt.

1938 floh Rudi Neumann illegal nach Belgien. Seine Frau und der 1935 geborene Sohn Bernd folgten ihm ins erzwungene Exil. Nach dem Einmarsch deutscher Truppen wurde die Familie erneut auseinandergerissen. Mit anderen Juden verschleppte man Rudi in die Internierungslager Gurs und St. Cyprien in Südfrankreich. Flora gelang es, ihren Sohn Bernd in einem Kloster zu verstecken. Auf getrennten Wegen deportierte man Rudi und Flora nach Auschwitz. Rudis Leidensweg endete in Buchenwald, wo er befreit wurde. Wie durch ein Wunder überlebte auch Flora, die gesamte Familie fand in Belgien wieder zusammen. Seit mehr als 40 Jahren leben sie wieder in Hamburg.

In ihrer Biographie mit dem Titel „Erinnern, um zu leben“gibt es ein Kapitel „Rudis Leben“, in dem Flora ihren Mann skizziert: „Mein Rudi ist ein Mensch, der viel Liebe gibt. Er liebt besonders Kinder. Für Rudi sind Kinder etwas ganz Besonderes. Kein Wunder, nachdem er erleben mußte, daß Tausende unschuldiger Kinder in den KZ-Lagern gequält und vergast wurden. Er wird von den Menschen sehr geachtet, macht nicht viel Worte, ist einfach da, wenn man ihn braucht.“

Flora und Rudi haben miteinander ihre Diamantene, sogar ihre Eiserne Hochzeit gefeiert. Man kann diesen beiden Menschen nur weiterhin noch viele gemeinsame und glückliche Jahre wünschen. Rudi, der morgen seinen 90. Geburtstag feiert und den die Jüdische Gemeinde in Hamburg durch einen Empfang ehrt, sei von ganzem Herzen zugerufen: Masel tow!