Brooklyns Jammertal

Auf der Straße sieht man noch die Blutspur, die die angeschossenen Attentäter hinterlassen haben  ■ Aus Brooklyn Peter Tautfest

Wollte man einem Marsmenschen in kürzester Zeit einen anschaulichen Begriff von der irdischen Menschheit vermitteln, man fände keinen geeigneteren Ort als die U-Bahn-Station Atlantic Avenue in Brooklyn. Hier münden oder kreuzen sich auf zwei Ebenen die Linien 2, 3, 4, 5, B, D, M, N, Q, R sowie die Long Island Rail Road. Hier drängen sich morgens und abends Menschenmassen aller Klassen, Farben, Ethnien, Völker, Stämme, beiderlei Geschlechts und jeden Alters. Sie strömen von Long Island nach New York, von Manhattan, der Bronx und Queens nach Brooklyn und umgekehrt.

Babylon – das muß eigentlich hier sein

Hier werden angeblich mehr als hundert Sprachen gesprochen, ein Dutzend davon unterscheidet das geübte Ohr: Englisch, Spanisch, Italienisch, Arabisch, Amharisch, Russisch, Koreanisch, Chinesisch, Tigrinja, Tagalog, Créole. Die Lautsprecherdurchsage am Bahnsteig der Long Island Railway, der Zug nach Babylon stünde zur Abfahrt bereit, klingt wie ein Irrtum: Babylon, das muß hier sein.

Wer hier aussteigt und durch das Labyrinth der U-Bahn- Schächte an die Oberfläche steigt, ist in Down Town Brooklyn. Wohin man auch gehen will, man wird sich immer am höchsten Bauwerk Brooklyns orientieren können, dem Turm der Williamsburg Bank. An dessen maurisch, gotisch, romanisch und neoklassizistisch beeinflußter Spitze zeigt eine weithin sichtbare Uhr den Menschen die Zeit an. Wer seine Kindheit in Brooklyn verbrachte – manche Berühmtheit kommt wie Norman Mailer, Woody Allen, Isaac Asimov aus Brooklyn – erinnert sich an diese Uhr. Sie rief Schüler nach Hause oder in die Schule und deren Eltern zur Arbeit oder zum Gebet. Was früheren Generationen diese Uhr war, ist manch heutigem Einwanderer der Ruf des Muezzin von der Moschee an der Atlantic Avenue.

Die Down Town Brooklyns wird aus dem Zusammenfluß der donnernden Flatbush Avenue, der lichten Atlantic Avenue, an deren Ende sich die Brooklyn Bridge nach Manhattan hinüberschwingt, und der verhängnisvollen 4th Avenue gebildet, in deren Nummer 248 vorigen Donnerstag die New Yorker Polizei die Bombenwerkstatt zweier junger Palästinenser aushob. Seitdem gehört hier die verstärkte Polizeipräsenz ebenso zum Stadtbild wie die Menschen in Ghalabia, Kaftan und Talar sowie unter Schleier, Fes und Turban.

In Down Town Brooklyn sind viele Gebäude verfallen, manche Stadtbrache wird von Efeu überwuchert, und es scheint, als obliege es dem Koloß der Williamsburg Bank und dem altehrwürdigen Bau der Brooklyn Academy of Music (BAM) diesen Stadtteil im turbulenten Strom der Zeit zu verankern und ihm Halt zu geben. Man ahnt, daß diese Stadt bessere, aber auch schlechtere Tage gesehen hat.

Keine zehn Jahre ist es her, da fuhren die Busse aus Manhattans Park Avenue zu den avantgardistischen Musikereignissen der BAM wie gesicherte Konvois durch städtisches Ödland. Heute verkleiden Bauzäune Stadterneuerung, und was in den Freiflächen das Unkraut ist, das sind in solchen Magistralen wie Atlantic Avenue und 4th Avenue die Kramläden, Devotionalienhandlungen, Antiquariate, orientalischen Lebensmittelmärkte, Reparaturwerkstätten, Schnellimbisse, Restaurants, Cafés und Garküchen.

Während in den oberen Stockwerken mit Bretter vernagelte Fenster Zeugnis ablegen vom Niedergang ehemals großer Geschäftshäuser und großbürgerlicher Wohnungen, nistet sich unten neues Leben ein. Da bietet die Nile Insurance Company Kfz-Versicherungen für die Neubürger vom Nil an, während gegenüber, im Fruchtbaren Halbmond, Halal Meat und ägyptisches Wasser verkauft werden – ersteres ist für Muslime, was koscheres Fleisch für Juden ist, letzteres weiter nichts als Brunnenwasser in Plastikflaschen mit arabischem Aufdruck.

Die 4th Avenue bildet den Talboden am Grunde zweier Abhänge, deren einer jenem Stadtteil den Namen gab, der durch die Ereignisse zu trauriger Berühmtheit gelangte: Park Slope. Er heißt so, weil er vom Prospect Park, Brooklyns Antwort auf Manhattans Central Park, zum Gowanus Canal hin abfällt. Geht man durch diesen Trog Richtung Nummer 248, kommt man an etlichen Auto- und Reifenreparaturwerkstätten vorbei. Die Arbeiten werden am Straßenrand erledigt, Reifenberge türmen sich auf dem Bürgersteig. Das Geschäft scheint vorwiegend in lateinamerikanischer und zunehmend in arabischer Hand zu sein. Was aber heißt hier schon arabisch? Dieser Begriff ist generalisierend ebenso unzulässig wie der Versuch, alle Menschen der spanischen Sprachgebiete beider Amerika unter den gemeinsamen Hut des Lateinamerikanischen oder Hispanischen zu bringen. Merke: Puertoricaner, Kubaner, Salvadorianer, Guatemalteken wollen voneinander nichts wissen und alle zusammen mit den neuangekommenen Mexikanern nichts zu tun haben. „Jesús es Señor“ steht da, wo ehedem die laufenden Spielfilme angekündigt wurden. Laute Rockmusik dringt aus dem Inneren, ein Anzeichen dafür, daß die katholische Kirche gegenüber den amerikanischen Evangelisten wieder an Boden verloren hat. Hier vereinigen sich für einen Sonntagvormittag lang zum swingenden Gottesdienst auch mehrere der spanisch sprechenden Völker. Nicht anders als der Inhaber des kleinen Lebensmittelladens, der sich mit dem des Fruchtbaren Halbmondes freitags in der Moschee trifft, Ägypter der eine, Jemenit der andere. Araber? Das sind jeweils die anderen. Verrückt müssen die gewesen sein, Bomben zu basteln, heute im Zeitalter der Raumfahrt.

Mustafa, der den kleinen Lebensmittelladen an der Ecke 4th Avenue und Union Street, schräg gegenüber der Nummer 248, betreibt, ist der Jemenit. „Jemeniten findet man überall, sie sind das fleißigste und weltgewandteste Volk.“ Libanesen und Palästinenser? Er schüttelt nur den weißen Krauskopf. „Mich hätte es leicht erwischen können“, ergänzt Rubai, der junge Mann, der Mustafa zur Hand geht. „Ich fahre viermal am Tag durch die Station Atlantic Avenue, morgens, mittags und abends spät, wenn ich nach Hause fahre. Ich bin froh, daß man sie gefaßt hat.“ An der Ecke Bergen Street und 4th Avenue klang das noch ganz anders. Der Überfall auf die Nummer 248 sei ein Manöver zur Spaltung der Arbeiterklasse gewesen und sollte eine einwandererfeindliche Stimmung erzeugen – im Jahr der Bürgermeisterwahl. Hier hat vor drei Jahren der marxistische Buchladen Pathfinder aufgemacht.

Die beiden seien öfter auf einen Kaffee hier gewesen, erzählt Mustafa, der vor dreißig Jahren nach Amerika gekommen ist. „Die beiden wollten sogar hinter der Theke helfen.“ Mustafa hebt seine weißen Brauen, wodurch sich die Adlernase und die beiden Mundwinkel noch weiter nach unten zu längen scheinen, und rollt seine Augäpfel nach oben, als wolle er sagen, er habe denen gleich angesehen, daß sie Tunichtgute waren. „Dieses Land ist das beste auf der ganzen Welt“, doziert er, nachdem er kassiert hat. „Hier hilft man sich gegenseitig, ist zuvorkommend, und vor allem bekommt hier jeder sein Recht.“ Er stellt nur Leute aus seinem Dorf ein. Die Art, wie er nach Feierabend mit auf dem Rücken gefalteten Händen die Union Street inmitten einer Männergruppe hinaufgeht, zeigt: Hier ist er so eine Art informeller Chef. Hat man erst Gebärdensprache und Körperhaltung eines solchen Mannes kennengelernt, erkennt man sie auch in anderen Männergruppen wieder, gleich ob sie italienisch, arabisch oder spanisch sprechend herumstehen.

Der Block von Nummer 248 ist der häßlichste

Der Block, in dem das Haus Nummer 248 steht, ist der verwahrloseste und häßlichste auf diesem Abschnitt der 4th Avenue. Durch den Straßenstaub hindurch sieht man noch die Blutspur, die die angeschossenen Attentäter hinterlassen haben, als sie nach dem Sturm auf ihre Bombenwerkstatt zum Polizeiwagen gebracht wurden.

Das Haus an der Ecke ist zusammengesunken, durch den Schutt dringt ein Sumach-Baum. Geht man an dieser Ecke die President Street nach rechts, gelangt man nach zwei weiteren Straßen an den schmutzigen Kanal, der dieses Elendstal zu entwässern scheint. Die alten Kai- und Fabrikanlagen stehen heute so still wie die graugrüne Brühe des Kanals. Doch auch in diesem trostlosen Grund von Park Slope keimt neues Leben. Unmittelbar an der Ecke 4th und President, gleich da, wo der Schutt des verfallenen Eckgebäudes aufhört, bewässern zwei Männer einen großen Oleanderbaum. Auf der 3rd Avenue, an der rückwärtigen Seite des Elendsblocks, renovieren zwei Haitianer das Erdgeschoß. Und an der Ecke Union Street und Nevins verwandelt sich das stillgelegte Gebäude der National Packing Box Factory in großfenstrige Wohnungen und Ateliers – mit Blick auf die überwucherten Stadtbrachen am Kanalrand.

Die soziale Topographie dieses Jammertals versteht besser, wer rechts und links die Hänge hochsteigt. Rechter Hand gelangt man jenseits des Kanals in die Stadtteile Carroll Gardens und Cobble Hill. Hier werden die Häuser bald prächtiger, Gärten und Geschäfte tun sich auf, interessante Cafés, Kinos, Boutiquen, Restaurants und Buchläden. Nicht anders auf der anderen Talseite. Wenige Schritte von der 4th Avenue die Union Street hinauf leuchtet die Oase eines kleinen Community Gardens. Die verwahrlosten Häuser sind renovierten Brownstones gewichen. Und dann erst die 5th, 6th und 7th Avenue – Brooklyns Antwort auf Greenwich Village. „Building Affordable Housing and Stronger Communities“ prangt an der renovierten Fassade über dem Luna Café an der 5th Avenue.

„Was den Reiz dieses Stadtteils ausmacht?“ John, der an der Ecke 5th und Flatbush Avenue vor seinem Buchladen steht, faßt es zusammen: „Dieser Teil von Brooklyn gilt als sicher, ist gemischt, und die Immobilienpreise sind niedrig. Wer braucht Manhattan, wenn er Brooklyn haben kann?“ Stimmt. Im Fenster eines Maklers hing das Foto eines Doppelhauses, das für schlappe 17.000 Dollar weggehen sollte. „Krempel die Ärmel hoch, verwirkliche deinen Traum“ stand drunter. Klar, die schöneren Häuser befinden sich oben am Hang, aber der Schwerkraft folgend scheinen Wohlstand und Lebensqualität langsam ihren Weg in den Talgrund gefunden zu haben – vielleicht zu langsam und zu ungleichmäßig.