Melancholie vor zerschossener Wand

■ Im Springer-Hochhaus an der Kochstraße werden die 200 weltbesten Pressefotos des letzten Jahres gezeigt

Die Welt der Pressefotografie, sie ist zum überwiegenden Teil noch immer schwarzweiß. So stellt es sich jedenfalls in der Jahresausstellung der Stiftung World Press Photo dar, die gestern im Foyer des Axel Springer Verlages eröffnet wurde. Vielleicht deutet der Eindruck auf traditionelle Vorlieben der internationalen Jury aus FotografInnen und BildredakteurInnen hin, auf eine Abgrenzung zum elektronischen Medium Fernsehen, das diese Farbgebung nur noch als Symbol historischer Erzählungen und Berichte kennt. Er mag aber auch darauf hinweisen, daß die seriösen Tageszeitungen mehr noch als ihre bunten Schwestern oder Nachrichtenmagazine Publikationsort und -ziel für anspruchsvolle Fotografie sind. Als Teilnahmebedingung für den Wettbewerb reicht es aus, daß die Bilder zur Veröffentlichung bestimmt sind, nur der geringere Teil der eingereichten 35.650 Fotos von 3.663 Fotografen aus 119 Ländern wurde demnach schon publiziert.

Die Bilder stammen aus dem letzten Jahr, es geht also nicht um Geschichte, sondern um Gegenwart, weltweit. Es geht um Krieg, Völkermord, Flüchtlingselend, Katastrophen, aber es geht nicht nur um die „Killing Fields“. Die Farbfotos zeigen die Welt der Wissenschaft und der Technologie, die Welt des Sports, sie zeigen Umwelt und Porträts. Die neunköpfige internationale Kinderjury, die seit zwölf Jahren einberufen wird, hat zudem ihr Kinderpressefoto des Jahres 1996 aus der zweitplazierten Fotoserie des Ressorts „Harte Fakten“ gewählt. Das Farbbild stammt von dem US-amerikanischen Fotografen John McConnico, der auf Puerto Rico die Rettung eines Kindes inmitten eines tropischen Orkans aufnahm. Die Kinder, so Ben ten Berge, der Projektmanager der nichtkommerziellen Stiftung, bestehen hartnäckig auf Fotografien, die positive Signale dokumentieren.

Das ist bei den Erwachsenen etwas anders, wenngleich das World Press Photo des Jahres 1996 nicht nur ein Bild des Schreckens ist. Es wurde in einem Zentrum für Kinder mit Kriegstrauma aufgenommen, in Kuito, einer Stadt des mit Landminen verseuchten Angola. Man schätzt, daß es dort ebenso viele nichtexplodierte Minen wie Einwohner gibt. Doch obwohl uns das Bild mit dem beinamputierten Jungen zum Zeugen des Skandals dieses Krieges gegen die Zivilbevölkerung macht, an dem die westliche Verteidigungsindustrie prächtig verdient, gibt der italienische Fotojournalist Francesco Zizola seinem Bild einen ästhetischen Schubs über die „concerned photography“ hinaus. Die Melancholie der drei statuarischen kindlichen Figuren vor der zerschossenen Wand ist auch friedvoll, jedenfalls in einem guten Licht.

Es scheint weniger die Ästhetik des entscheidenden Augenblicks zu sein als vielmehr ein Moment der Ruhe, der Verdichtung, was heute dominiert. Ein Moment, das die Genregrenzen verflüssigt und Joseph McNallys erstprämiertes Porträt der 100-Meter-Lauf-Olympiasiegerin Gail Devers auch zum Modefoto macht. Futuristisch daneben der erste Preis im Bereich Wissenschaft und Technologie: James Balogs Foto vom Techno sapiens im „Springläufer“-Gewand, das jedermanns Schrittempo auf 50 km/h erhöht. Brigitte Werneburg

Bis 31.8., täglich 10–20 Uhr, Kochstraße 50